Demonstriedrende Menschenmenge in Berlin von oben

Wie weiter mit #Unkürzbar nach den Kürzungen?

Der Slogan „Wir sind alle unkürzbar!“ hatte absehbar ein Verfallsdatum. Am 19.12.2024 werden die für Berlin geplanten Haushaltskürzungen von der schwarz-roten Regierung aller Voraussicht nach beschlossen. Am Donnerstagmorgen wird es eine weitere Protestaktion am Abgeordnetenhaus geben, und das wars. Doch damit fangen die Probleme erst so richtig an: Die Kürzungen werden all jene Wirkungen entfalten, vor denen während der vergangenen Wochen bei zahlreichen Protestkundgebungen gewarnt worden ist. Es gibt also keinen Grund, klein beizugeben oder zu resignieren.

Entscheidend dürfte vielmehr sein, ob es ab dem 19.12. gelingt, das Momentum von „Unkürzbar“ in eine nicht mehr nur defensiv formulierte Bewegung hinüberzuleiten, die bei der nächsten Kommunalwahl spätestens im Herbst 2026 auch einen Politikwechsel mit bewirkt haben wird. Einen Politikwechsel, der nicht nur ein Regierungswechsel ist. Gewinnen wir Berlin nicht nur zurück; das ist unmöglich; gewinnen wir es neu!

Von Erregungs- und Bewegungs-Tsunamis

Am Sonntag dem 15.12. haben in Berlin an die 6.000 Menschen gegen die Kürzungsvorhaben des Senats protestiert. Die Frist für Organisation und Mobilisierung war äußerst kurz. Erst am 4.12. hatte sich das „Unkürzbar“-Bündnis gebildet, das alle von den Kürzungen betroffenen Bereiche in einer großen Demonstration zusammenführen wollte. Lag doch der Fokus der Aufmerksamkeit lange vor allem auf den Kürzungen im Bereich der Kultur. Aber auch andere Bereiche waren stark betroffen. Schließlich haben nahezu 200 Initiativen, Vereine und Verbände zu der Demonstration am 15.12. mobilisiert.

Erst am 19.11., vor genau einem Monat, wurden die Kürzungspläne für den kommenden Haushalt „verkündet“. Die Breite und Wucht, die Detailschärfe und die klare politische Ausrichtung dieses Angriffs haben sehr viele Menschen schockiert. Fast täglich gab es nun während der kommenden Wochen Kundgebungen und Aktionen, Bündnistreffen und Versammlungen. An allen Ecken und Enden brodelte es.

Der OB Kai Wegner (CDU) wiegelte ab. Er sprach von „schmerzhaften Einschnitten“, die man sich „nicht leicht gemacht“ habe. Doch seien wir versichert: IHN schmerzen sie nicht! Während die schwarz-rote Regierung Einschnitte bei den Schwächsten der Gesellschaft plante und etwa Jugend- und Familienhilfeeinrichtungen in den Abgrund stieß, haben sich die Abgeordneten inmitten der laufenden Kürzungsdebatten ein saftiges Diäten-Plus genehmigt. Auch auf die Idee, Einschnitte bei denjenigen vorzunehmen, die es nicht derart „schmerzt“, verfällt die schwarz-rote Regierung nicht: Die von den Berliner*innen mit großer Mehrheit gewollte Vergesellschaftung großer Wohnungsfinanzunternehmen etwa wird von ihr seit Jahr und Tag blockiert. Während die „Vonovia“ Berliner Mieter*innen weiter ungestört ausbluten kann, vermeidet sie bei der Übernahme der „Deutsche Wohnen“ durch Steuertricks die Zahlung von Grunderwerbssteuer in Milliardenhöhe. Die Parkgebühren sind in keiner anderen Stadt so niedrig wie in Berlin, und auch auf zusätzliche Bundesmittel verzichtet man lieber, als allen in Berlin lebenden Menschen auch nur eine behördliche Anmeldung zu ermöglichen.

Der Kultursenator Joe Chialo (CDU), der seine völlige Eignungslosigkeit für das von ihm so dürftig bekleidete Amt am 8.12. in der Schaubühne eindrücklich unter Beweis gestellt hat, empfahl den Berliner*innen im besten neoliberalen Jargon, ihren „Sparmuskel zu trainieren“. Jene, welche er als Teil der schwarz-roten Regierung in ihrer Existenz bedroht, forderte er auf, ihm nicht mit ihren kindischen „Erregungs-Tsunamis“ lästigzufallen. Zur gleichen Zeit aber braute sich in Berlin ein Bewegungs-Tsunami zusammen, angefacht nicht zuletzt durch diese offene Arroganz.

Divide et impera

Dafür, dass die Veröffentlichung der genauen Kürzungslisten – am Jahresende kurz vor Weihnachten – auf Überrumpelung angelegt war, war die Demo vom vergangenen Sonntag beachtlich. Von der Karl-Liebknecht-Brücke am Dom bis zum Roten Rathaus erstreckte sich der Zug. Auf der Heinrich-Heine-Straße kam noch ein Fahrradzubringer aus Neukölln hinzu. Schon während der letzten Woche sah sich der Senat gezwungen, auf die sich aufschaukelnden Proteste und die bedrohliche Breite des Bündnisses zu reagieren. Die bewährte Strategie des Teile-und-herrsche wurde erprobt: Besonders öffentlichkeitswirksame Projekte wurden von den Kürzungen (vorerst) ausgenommen, großen Häusern wie dem Deutschen Theater wurden diese gekürzt und die tariflichen Lohnsteigerungen wurden plötzlich doch noch gedeckt. Auch die Forderung nach einem sogenannten „Runden Tisch“, welche die Kulturinstitutionen vorgebracht hatten, wurde teilweise erfüllt; doch nicht alle waren geladen. Die absolute Summe der Kürzungen blieb unangetastet; die Lasten wurden lediglich anders verteilt, wodurch der Vorteil der einen zugleich der Nachteil der anderen war. Die großen Kulturinstitutionen wurden entlastet, die vielen kleinen und die freie Szene dafür nur um so härter getroffen. Jemand formulierte treffend: „Wer nicht mit am Tisch sitzt, ist Teil des Menüs.“ Die Regierung versuchte, das Bündnis zu zerbrechen und dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen. Entsprechend hieß es im Aufruf inzwischen: „[W]ir lassen uns nicht spalten und werden weiter gegen die Kürzungen protestieren!“

Zweckoptimismus meets Capitalist Realism

Gleichwohl waren die Reden bei der Auftaktkundgebung von Anfeuerungen geprägt, die einen Zweckoptimismus erkennen ließen, der sich spürbar selbst nicht glaubt: „Wir sind alle unkürzbar!“ Leider nicht!

In der Presseerklärung des Bündnisses vom 15.12. hieß es einige Stunden später bereits im einfachen Futur: „Die Kürzungen werden alle Berliner*innen hart treffen, denn in wesentlichen Bereichen wie Mobilität, Klimaschutz, Kultur, Bildung, Jugendhilfe, Inklusion, soziale Arbeit, Gesundheit und Wohnen wird die sorgfältig aufgebaute Infrastruktur irreparabel beschädigt.“

Ein Argument, das im Zuge der Proteste immer wieder zu hören war: Der Angriff auf die Kultur sei auch ein Angriff auf die Demokratie. Sicherlich: Erst aktive Verblödung und Vereinzelung, dann autoritär durchgreifen. Das passt wie Arsch auf Eimer und ist ähnlich auch in Ungarn, Russland oder Georgien zu beobachten. Dass es mit einer „Demokratie“ nicht allzu weit her ist, in der eine Handvoll Bonzen über das Schicksal einer Millionenstadt entscheidet und mit einem Handstreich die über Jahrzehnte mühevoll aufgebauten Strukturen der Daseinsvorsorge zerstört, fällt den wenigsten ein. Dieser Gedanke wäre zu gefährlich, nicht zuletzt für die eigene Lebenslüge über „unsere Demokratie“, die lediglich zu verteidigen, nicht aber allererst zu erringen wäre.

Auch die Politizität der Kürzungen – ihr Klassencharakter – wurde eher selten thematisiert. Nur ganz leicht wurde sie etwa in der Schaubühne gestreift, als Menekse Wenzler das Thema der Parkgebühren berührte. Selbst die brilliante, leider bloß links-liberale Carolin Emcke denkt zumindest öffentlich nicht weiter als bis zur „sozialen Frage“, die, wie man weiß, immer nur die Frage nach der Verwaltung und Abmilderung des Elends im eskalierenden Kapitalismus war. Dieser selbst steht außer Frage. Hingegen beteuerte man wiederholt und ausführlich, dass man einsichtig sei und die Notwendigkeit der Kürzungen prinzipiell akzeptiere. Nichts ist schlimmer als das Stigma der Realitätsferne, die das Subjekt als ernstzunehmenden Gesprächspartner disqualifiziert. Die „Politik der leeren Staatskassen“ wird als alternativlos akzeptiert. Dies gilt als Grundlage jeder vernünftigen Diskussion – bis wieder eine systemrelevante Bank zu retten, eine Pandemie zu bewältigen oder ein Sondervermögen zur Ertüchtigung der Bundeswehr zu beschließen ist und die Politizität dieser Politik einen Moment lang aufblitzt. Indessen: Nicht lange genug, um ihre Alternativlosigkeit in Zweifel zu ziehen. Nur über die Instrumente will man – bitteschön! – mitreden dürfen; das müsse schon sein: lieber Daumenschrauben oder glühende Eisen? Schöne Demokratie.

Wirkliche Demokratie oder Barbarei

„Unsere Kraft ist euer Profit“, traf am Sonntag ein Banner den Nagel auf den Kopf. In dieser Gesellschaft ist Geld vor allem Kommando über fremde Arbeitskraft und bekanntlich sehr ungleich verteilt. Könnte DAS nicht ein Problem für die „Demokratie“ bedeuten? „Der zunehmend schärfere Ton in Haushaltsdebatten führt uns immer deutlicher die Unzulänglichkeiten der parlamentarischen Demokratie vor Augen“, sagte kürzlich ein Mitglied des NfK: „Sollen Politiker*innen darüber befinden, ob Millionen für die NFL oder für lokale Kulturprojekte und Schulausflüge ausgegeben werden? Wäre es nicht an der Zeit, dass die Berliner*innen selber entscheiden?“

Wie wäre es damit, die Forderung nach einem partizipatorischen Budget in die Haushaltsdebatten einzuspeisen und sie dann zu noch umfassenderen Forderungen nach Selbstbestimmung zu eskalieren? Auch für die bundespolitische Ebene hätte dies offensichtliche Implikationen. Denn isoliert lässt sich eine Stadt wie Berlin nicht betrachten; die Bundespolitik schlägt nicht nur in Form der Schuldenbremse auf die kommunale Ebene durch.

Wir finden uns längst in einen Kulturkampf von rechts verwickelt, auf europäischer und globaler Ebene, aber auch im Bund. Wie können wir glauben, die kommunale Ebene bliebe davon verschont? Es ist höchste Zeit, sich von der Phantasie zu verabschieden, dass Berlin eine Insel sei, oder eine uneinnehmbare Festung, und sich dieser Realität zu stellen. Das Selbstbestimmungsgesetz soll zurückgerollt werden wie die Radwege in Berlin. Die Hetze gegen Bezieher von Bürgergeld oder Geflüchtete scheint unendlich steigerungsfähig, aber die leistungslosen Einkommen der Superreichen werden vor dem Zugriff der Gesellschaft geschützt. Dieselben Politiker, die Unsummen aus Cum-Ex-Betrügereien unter dem Vorwand der Bürokratieerleichterung abschreiben, fühlen sich ernsthaft in ihrem „Gerechtigkeitsempfinden“ verletzt, wenn sie auf die Sozialsysteme zu sprechen kommen. Um von ihrem Klientelismus abzulenken, hetzten sie die Gerade-noch-nicht-Armen gegen die Armen, die Armen gegen die Allerärmsten und die Staatsbürger*innen gegen die Neuankömmlinge auf – und ebnen dem aufkommenden Faschismus so den Weg. Sie erzeugen den Mangel und spielen die Hungerleider der verschiedenen Bereiche gegeneinander aus.

Wird aber einmal die fortgesetzte Enteignung der Berliner*innen durch überzogene Mieten und Teuerungen aufgrund leistungsloser Spekulationsgewinne angegriffen und etwa die Besteuerung großer Vermögen oder die Lockerung der Schuldenbremse gefordert, erheben sie ein maßloses Geschrei und reden von „Sozialneid“, wo es sich um strukturelle Ungerechtigkeiten handelt.

Wie lange werden sich die Leute diese Dreistigkeiten noch bieten lassen? Wie lange werden sie sich noch derart verhöhnen lassen? Wie lange wird es noch gelingen, dieser oligarchischen Politik das fadenscheinige Mäntelchen „der Demokratie“ umzuhängen?

Die Demokratie, diese Demokratie, trennt die Leute von ihrer Macht. Um sich irgendwie Gehör zu verschaffen, bleibt ihnen nichts weiter übrig, als sich in ihrer wenigen freien, nicht in der Lohnsklaverei vergeudeten Zeit mit einem Pappschild auf die Straße zu stellen und Slogans in die Luft zu brüllen. Empfinden sie denn diese Demütigung nicht? Wollen sie sich denn nicht endlich eine wirkliche Demokratie erkämpfen und die dazu nötigen Einrichtungen schaffen? Gehen ihre Gedanken, ihre Bestrebungen denn nicht endlich über die Verteidung des Bestehenden einmal hinaus? Dieses Bestehende kann nicht mehr bestehen, es treibt längst seinem Ende zu und gebiert Monster. Es treibt die Barbarei aus sich selbst hervor. Die Brutalisierung, die wir überall erleben, ist das Resultat dieser Gesellschaft. Sie stößt ihr nicht von außen zu. Es ist heute nicht die Frage: Diese Demokratie oder die Barbarei, sondern: wirkliche Demokratie oder Barbarei?

Wie weiter mit Unkürzbar?

Eine wirkliche Demokratie muss sich ihre Einrichtungen erst noch schaffen, die Formen, in denen sie sich realisiert, Formen, die die Leute nicht zugunsten von Bonzen, Berufspolitikern und Technokraten abdanken lassen. Gibt es in Berlin die Möglichkeit einer munizipalistischen Bewegung, die die Leute befähigt, sich selbst zu regieren? Gibt es diese Möglichkeit auch in anderen Städten, in anderen Kommunen, die sich ähnlichen Problemen, einer neuen rechten „Agenda“ und neuen Austeritätspolitiken gegenübersehen? Sollten wir diesen Politiken der Trennung und des Mangels nicht Visionen und Praktiken der wilden Verbundenheit und der kollektiven Fülle entgegensetzen?

Forderungen aus den bisherigen Protesten, wie „Kultur für Alle“ oder „Anmeldung für Alle“, lassen sich erweitern. Fordern wir also auch: „Gesundheit für Alle“, „Mobilität für Alle“, „Natur für Alle“, „Lebenssicherheit für Alle“ … und ein „Berlin für Alle“! Diese Forderungen weisen über die defensive Losung von „Unkürzbar“ hinaus auf eine positive und umfassende Vision. Sie sind keine Appelle an die Politik, die sich, wie wir immer wieder erfahren mussten, um die Leute als Bittsteller nicht schert. Dieses paternalistische Verhältnis müssen wir verlassen. Diese Forderungen sind Richtlinien unserer Praxis. Wir wollen selbst die Macht, um über die uns betreffenden Dinge zu beratschlagen und zu entscheiden. Wir wollen nicht DIESEN Leuten ausgeliefert sein! Wir werden uns freiwillig aneinander binden und aufeinander verlassen, um diesen Leuten nicht länger ausgeliefert zu sein.

Eine politische Wende bräuchte ihre populäre Basis, und diese ließe sich aus der Opposition gegen den aktuellen Rechtsdrift gerade entwickeln, womit sich zugleich die Möglichkeit einer munizipalistischen Neuausrichtung der linken Elemente in der Kommunalpolitik ergeben könnte. Der rechte Angriff wird nicht nachlassen; entwickeln wir also die Opposition gegen diesen Angriff weiter zu einer positiven Kraft. In Berlin und darüber hinaus, in vielen Kommunen zugleich! Sagen wir also, dies ist unsere neue Bewegung, eine Bewegung, die ihre Basis in den Kommunen hat, eine Bewegung, deren Kraft von den Leuten ausgeht und sie nicht verlässt, eine Bewegung, welche den rechten Angriff, den wir erleben, abzuwehren und die heraufziehende Barbarei durch ihre positive Fülle zu überwinden berufen ist. Aber beeilen wir uns, bevor dieser Angriff zu stark wird, bevor er zu viele Positionen besetzt und sich in ihnen verschanzt, bevor die Opposition gegen diesen Angriff zu sehr geschwächt ist, bevor sie auf Jahrzehnte unterliegt und nur mehr glimmen kann, ohne zu brennen und sich als eine positive Kraft zu konstituieren.

JB


Links:

https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/12/berlin-demonstration-wohlfahrtsverbaende-sparplaene-abgeordnetenhaus-senat.html

https://www.tagesspiegel.de/kultur/grosstmogliche-kulturpolitische-inkompetenz-berliner-kultur-kurzungen-emporen-die-szene-12731609.html

https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/11/berlin-senat-kuerzungen-einsparungen-koalitionsausschuss.html

https://www.tagesspiegel.de/berlin/wo-berlin-jetzt-spart-die-milliarden-streichliste-im-uberblick–und-komplett-zum-download-12721715.html

https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/11/berlin-senat-sparmassnahmen-beschlossen-liste.html

https://berlin-haushalt25.nand.io

https://www.deutschlandfunk.de/berlin-kultur-haushalt-kuerzungen-100.html

https://taz.de/29-Euro-Ticket-in-Berlin/!6056307

https://www.deutschlandfunkkultur.de/berliner-kulturszene-weiter-solidarisch-demos-gegen-kuerzungen-gehen-weiter-dlf-kultur-dcf7b2bb-100.html


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