Kommunalistische Strategien und Beispiele aus aller Welt

Munizipalistische Bewegungen kennen zwei Strategien, die je separat oder auch komplementär verfolgt werden können: innerhalb oder ausserhalb bestehender kommunaler Institutionen. Sixtine van Outrive D´Ydewalle beschreibt in ihrem Essay «Becoming Mayor to Abolish the Position of Mayor», dass die institutionelle Strategie nie im Reformismus münden darf, sondern das revolutionäre Ziel haben muss, die Gemeinde so zu transformieren, dass die Macht von basisdemokratischen Versammlungen ausgeübt wird.

Es folgen einige Auszüge aus dem Essay:

«Die Strategie des Kommunalismus1 möchte bewusst eine Dual-Power-Situation zwischen einerseits der Konföderation basierend auf lokaler Selbstverwaltung und andererseits dem traditionellen Nationalstaat zu schaffen. Die beiden Strukturen würden dann um die gesellschaftliche und politische Legitimität streiten. Dabei wird das Ziel verfolgt, die Munizipalität zu einem Ort zu erweitern, wo öffentliche Freiheit ausgeübt werden kann und materielle Bedürfnisse erfüllt werden; dies wird so weit getrieben, bis die Legitimität des Staates ‹ausgehöhlt› werden würde.»

«Das kommunalistische Projekt schlägt zwei Strategien vor, um Selbstverwaltung auf der Ebene der Munizipalität zu verwirklichen: eine extra-institutionelle [ausserhalb der Institutionen] und eine institutionelle. Die extra-institutionelle Strategie besteht darin, radikal neue und alternative Institutionen zu schaffen, indem extra-legale Volksversammlungen (popular assemblies) aufgebaut werden, um kommunale Angelegenheiten unabhängig vom existierenden politischen System zu regeln.»

«Die institutionelle Strategie besteht darin, existierende legale munizipale Institutionen im Zuge von Wahlen zu besetzen, um sie radikal zu transformieren, dahingehend, dass sie ihre Macht via Volksversammlungen ausüben, welche nach dem Modus der direkten Demokratie entscheiden.»

Die Priorität sollte auf der extra-institutionellen Strategie liegen. Diese sollte ebenfalls bewusst mit der institutionellen kombiniert werden: Während Volksversammlungen organisiert und aufgebaut werden, sollte das Wahlprogramm für die institutionelle Politik besagen, dass die Macht der staatlichen Institutionen neu auf die Versammlungen, das Volk und deren demokratische Entscheidungen übertragen werden soll.

«Dieses transformative Element ist wesentlich, um kommunalistische Bewegungen von anderen Bewegungen zu unterscheiden, die (nur) die Partizipation der Bürger*innen in der Stadtregierung erhöhen wollen, ohne die munizipale institutionelle Struktur, das Paradigma der repräsentativen Demokratie und die Macht des Staates, fundamental herauszufordern» und radikal ändern zu wollen.

«Libertärer Munizipalismus ist nicht bloss ein Effort, Stadträte zu übernehmen, um eine umweltfreundlichere Stadtregierung zu konstruieren. Eine solche Herangehensweise sieht die städtischen Strukturen, wie sie jetzt existieren und nimmt sie so, wie sie existieren. Libertärer Munizipalismus, im Gegensatz dazu, ist ein Effort, Stadtregierungen zu transformieren und zu demokratisieren, um sie in Volksversammlungen zu verankern, und um sie konföderalistisch zu verknüpfen, um sich eine regionale Ökonomie entlang konföderaler und munizipaler Linien anzueignen.» (Bookchin, The Next Revolution)

Beispiele rund um die Welt

Heute treten rund um die Welt munizipalistische Bewegungen in Erscheinung, die versuchen, lokale Institutionen von lediglich dezentralisierten staatlichen Strukturen hin zu populären demokratischen Versammlungen zu verändern:

1) durch eine munizipale Plattform, um an lokalen Wahlen teilzunehmen,

2) durch alternative Nachbarschaftsversammlungen, um kommunale Angelegenheiten zu regeln

3) durch Direkte Aktion gegen die politische Elite und das Organisieren von lokalen Neuwahlen, [um der Bevölkerung Macht zu geben].

4) durch das Erschaffen von Instiutionen, die wirtschaftliche Selbstbestimmung ermöglichen

5) indem sie urbane soziale Graswurzelbewegungen in verschiedenen Kämpfen miteinander konföderieren.

Dazu gibt Sixtine van Outryve in den Fussnoten einige Beispiele:

1) Barcelona en Comú ist eine munizipalistische Bewegung, die gegründet wurde, um die Wahlen in Barcelona zu gewinnen und die munizipalen Institutionen im Geist von «15M» und «Indignados» zu transformieren. (15M/Indignados waren soziale Bewegungen, die sich um Armut, Wohnungsknappheit, Gentrifizierung und weitere Probleme der lokalen Bevölkerung drehten.) 2015 hat Barcelona en Comú die Wahlen gewonnen. Die Agenda dazu wurde basisdemokratisch durch Aktivist*innen und Einwohner*innen in Nachbarschaftsversammlungen erarbeitet. Die Versammmlungen («asambleas») werden auch heute noch regelmässig durchgeführt. Auch in anderen spanischen Städten wie Madrid oder Zaragoza gab es solche munizipalistischen Kandidaturen.

Weitere Beispiele sind Ciudad Futura in Rosario (Argentinien), Autrement pour Saillans (Frankreich), «Grenoble, une ville pour tous» (Frankreich). Zahlreiche weitere Beispiele finden sich auf der Karte auf fearlesscities.com.

2) In der Stadt El Alto in Bolivien bildeten sich Nachbarschaftsversammlungen, die lokale Güter verteilten und Konflikte zwischen Einwohner*innen schlichteten, also Funktionen erfüllten, die eigentlich der Staat erfüllen sollte.

Während der Krise von 2001 in Argentinien organisierten sich viele Nachbarschaften in Räten, um kommunale Angelegenheiten zu regeln.

In Jackson im Süden der USA haben Graswurzelbewegungen eine «People´s Assembly» (Volksversammlung) ins Leben gerufen, um soziale Probleme anzusprechen und den Menschen zu ermöglichen, ihre Handlungsfähigkeit und Macht auszuüben und Demokratie zu üben.

Im Nordwesten der USA wurden nach der Trump-Wahl und dem folgenden Rechtsrutsch mehrere kommunialistische Organisationen gegründet: Olympia Assembly, Portland Assembly und Seattle Neighbourhood Action Coalitions. Sie beziehen sich explizit auf Bookchin und zielen darauf ab, die Gesellschaftsordnung zu verändern und eine kommunalistische Gesellschaft herbeizuführen. Um dieses transformative Ziel zu erreichen, widmeten sie sich zuerst den dringendsten Problemen der Stadt: Gentrifizierung, Wohnungsnot, Gewalt, ökonomische und soziale Ungleichheit. Neben Direkter Aktion und Gegenseitiger Hilfe konzentrierten sie sich auf politische Bildung und auf Versammlungen, die nach dem Mechanismus direkter Demokratie funktionieren.

3) Die Stadt Cheran in Mexiko ist ein Beispiel für eine Munizipalität, die gegen die ökonomische und korrupte politische Elite aufgestanden ist. Die Einwohner*innen haben die organisierte Kriminalität und die mit ihnen verflochtenen Behörden aus der Stadt vertrieben und de facto eine Selbstverwaltung eingeführt.

4) Hier erwähnt Sixtine van Outryve das Instrument des «partizipativen Budgets», das bereits in unzähligen Städten weltweit eingeführt worden ist. So wird aktuell auch in Zürich (Wipkingen) damit experimentiert. Eines der ersten und bekanntesten Beispiele dafür ist Porto Alegre (Brasilien).

In eine ähnlich Richtung zielt das Konzept der «Stadt der Commons». Napoli und Bologna beispielsweise betrachten öffentliche Dienste als Commons, die kommunal verwaltet werden sollten.

5) Das Projekt «Symbiosis» will eine Konföderation von kommunalen Organisationen schaffen. (www.symbiosis-revolution.org)

Etwas Ähnliches versucht die Bewegung «Recht auf Stadt». In den USA strebt sie unter dem Namen «The Right to the City Alliance» eine breite Koalition von urbanen sozialen Bewegungen in den Städten an.

In Grossbritannien schlägt das Kollektiv «We are Plan C» vor, munizipalie Bewegungen für einen radikalen Munizipalismus zu konföderieren.

Für all die erwähnten Beispiele gilt:

«Kommunalistische Bewegungen, ob sie extra-legale Volksversammlungen schaffen oder ob sie in lokale Institutionen eintreten, versuchen die Menschen hier und jetzt zu ermächtigen und direkt eine Antwort auf ihre Bedürfnisse zu finden, die der neoliberale Staat unter dem globalen Kapitalismus unbeantwortet lässt. Sie tun dies, indem sie Institutionen aufbauen, die auf denselben Prinzipien beruhen wie die Gesellschaft, die sich sich erträumen: Hierarchielosigkeit, direkte Demokratie und Gegenseitige Hilfe.»

In ihrem Essay warnt Sixtine van Outryve dafor, in die «reformistische Falle» zu geraten. Eine explizit kommunalistische Wahlstrategie sei besser dagegen gerüstet als andere linke Bewegungen, die lediglich die Personen an der Macht austauschen, aber die Frage, wie Macht ausgeübt wird, unberührt lassen:

«Kommunalist*innen zielen danach, die Logik, wie Macht ausgeübt, zu transformieren: von der exklusiven Ausübung durch eine Klasse von professionellen Regierenden zu normalen Bürger*innen, also von einer Logik der repräsentativen Demokratie zu einer der direkten Demokratie. Sie zielen danach, die Form kollektiver Deliberation und Entscheidungsfindung zu verändern: von einem jakobinischen, zentralistischen Parlament und einer zentralistschen Regierung zu dezentralen, aber konföderierten, kommunalen Volksversammlungen.»

Im Essay schildert Sixtine van Outryve detailliert die Mechanismen einer kommunalistischen Politik, unter anderem die Prinzipien von Rotation und Imperativem Mandat. Die Volksversammlungen entsenden Delegierte – nicht Repräsentant*innen, die vier Jahre lang tun und lassen können, was sie wollen – mit dem klaren Auftrag, den in der Versammlung bereits gefasste Wille umzusetzen.

Ein Punkt, den Sixtine van Outryve betont: Starke, lebendige, funktonierende Volksversammlungen sind das A und O eines kommunalistischen Projekts. Es bringt nichts, wenn Kommunalist*innen die Wahlen gewinnen, wenn sie nicht diese starke soziale Basis hinter sich haben. Es braucht seine, Zeit, bis eine «Kultur des Selbstregierens durch populäre Versammlungen» steht und sich die Menschen in kollektiver Deliberation und Entscheidungsfindung üben und (weiter)bilden.2 Dies bedeutet natürlich auch, dass Strukturen geschaffen werden, die diese Prozesse erlauben – dies kann unter anderem bedeuten, dass z. B. die Arbeitszeit verringert werden muss oder patriarchale und rassistische Strukturen überwunden werden müssen.
Beginnen wir jetzt damit – lieber früher als später!


Fotohinweis: Barcelona en Comú https://encomuparticipa.barcelonaencomu.cat/assemblies?locale=es


1 Sixtine van Outryve verwendet die Begriffe Kommunalismus und Munizipalismus in ihrem Text mehr oder weniger austauschbar, wie sie in einer Fussnote erklärt.

2 In den letzten Kapiteln des Essays liefert Sixtine van Outryve Antworten auf diverse Einwände und Gefahren, mit denen munizipalistische Strategien konfrontiert sind.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert