In einer Zeit, in der sich die Krisen zuspitzen, sind die Ideen von Murray Bookchin aktueller denn je. Er versuchte, die Beziehung von Gesellschaft und Natur neu zu denken – vieles, was heute Konsens ist, formulierte er als Erster. Ein kürzlich erschienener Podcast zieht die Linie von Bookchin über Occupy bis heute: Unsere Bewegungen brauchen sozial-ökologische Theorie und Praxis, um politisch reif zu sein, wenn eine revolutionäre Situation eintritt.
Chaia Heller und Mason Herson-Hord lehren am Institute for Social Ecology in Vermont (USA). Im Podcast der Organisation Woodbine1 erläuterten sie, was Soziale Ökologie so einzigartig macht.
Mason Herson-Hord ist 2011 während “Occupy Wallstreet” politisiert worden. Ein Kollege war über einen Text von Murray Bookchin gestolpert und stellte erstaunt fest, dass er sehr ähnliche Dinge beschrieb wie all das, was die Occupy-Aktivist*innen bewegte. Aber eingebettet in einen breiten historischen und systematischen Kontext. Es war genau die Art von Theorie, nach der sie gesucht hatten, um Hinweise zu bekommen, wohin ihre politische Bewegung gehen könnte.
Bookchin lieferte ihnen die philosophischen Grundlagen, um Gesellschaft und Ökologie zusammen zu denken. Das war etwas, das beispielsweise Marxismus oder Anarchismus nur bruchstückhaft erbringen konnten – aber das angesichts der heutigen Krisen immer dringender wird!
Soziale Ökologie ist ein klarer und kohärenter Weg, um diese Probleme und ihre Wurzeln zu interpretieren. Ein Grundgedanke ist, dass die Menschen nicht eine externe Kraft ausserhalb der natürlichen Evolution sind, eine “Krankheit”, die zerstörerisch auf die Natur einwirkt. Sondern es sind ihre gesellschaftlichen Institutionen (Kapitalismus, Hierarchie, Herrschaft), die schädlich sind. Diese Erkenntnis ist inzwischen auch in die verwandte Strömung des Ökosozialismus hinübergeflossen und ist heute allgemeiner Konsens in der Linken. “Früher was das kein Konsens”, stellt Mason Herson-Hord fest. “Das war wirklich ein Beitrag der Sozialen Ökologie an die breitere linke Umweltpolitik.” Soziale Ökologie sei nicht nur gegen Kapitalismus, sondern gehe einen Schritt weiter und zeige, dass jede menschliche Hierachie und jedes System der Herrschaft zu Umweltzerstörung führt.
Natur als Evolution
Chaia Heller kam Mitte der 1980er zum Institute for Social Ecology. Zuvor war sie in der Anti-Apartheidsbewegung aktiv und skeptisch gegenüber der Umweltschutzbewegung, weil sie dachte: “Die kümmern sich um Wale, nicht um Menschen.” Aber als sie diesen Philosophen, Murray Bookchin, in seinen Vorlesungen hörte, war sie wie weggeblasen (“blown away”). Philosophen waren für sie Männer, die lange gestorben waren und nichts mit unserer Zeit zu tun haben – aber da sass er und sprach genau das an, was sie beschäftigte.
“Er wollte die Leute dazu bringen, zu begreifen, was Natur ist: die sich entfaltende natürliche Evolution, aus der allmählich die Gesellschaft erwächst”, erklärt Chaia Heller. Bookchin habe daran geglaubt, dass nach der “ersten Natur” und der “zweiten Natur” (Gesellschaft) eine “dritte Natur” möglich sei: “Dass sich die Menschheit bewusst wird, wie sie eine freie, demokratische Gesellschaft kreieren kann.”
Bei Bookchin gebe es keinen Dualismus zwischen Mensch und Natur, sondern es sei alles ein ganzheitlicher Prozess. “Wenn die Leute das verdauen, dann ändert sich ihre Sichtweise auf öklogische Probleme und sie schauen anders auf revolutionäre Momente”, so Heller. Aus derselben Dialektik heraus könnten z. B. neue direktdemokratische Prozesse erwachsen, eine umwelt- und menschenfreundliche Technologie oder eine moralische Wirtschaft.
Die dialektische Methode
Die Herangehensweise von Murray Bookchin ist dialektisch. Die Dialektik, die Hegel an Marx weitergab, und die Marx an Bookchin weitergab, liefert die Methode, um die Entwicklung der Menschheit als historisch zu verstehen. Bookchin ging dabei noch einen Schritt weiter als der dialektische Materialismus von Marx. Er legte den Fokus nicht nur auf die ökonomisch-materielle Basis, sondern auf die materielle Natur insgesamt. Bookchins “dialektischer Naturalismus” erlaubt nicht nur, die historische Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur neu zu denken, sondern auch, wie eine neue Gesellschaft konstruiert werden kann.
Was die Soziale Ökologie von anderen Strömungen abhebt, ist laut Chaia Heller genau diese rekonstruktive Vision. Es geht darum, die ganze Gesellschaft zu verändern, hin zu einer radikal demokratischen und ökologischen Gesellschaft. Wenn sich seit der Zeit Bookchins etwas verändert habe, dann dies, meint Chaia Heller: “Die Dringlichkeit der ökologischen und demokratischen Krise.”
Utopie: das Potenzial zur guten Gesellschaft
Der Podcast-Moderator lenkt anschliessend den Fokus darauf, dass bei vielen Aktivist*innen mit der Zeit das Interesse und die Energie nachlassen und die Bewegung erlahmt. Das habe man bei Occupy gesehen und auch bei Bookchin (1921–2006) an seinem Lebensende.
Chaia Heller, die Bookchin zu ihren engsten Freunden zählte, widerspricht: “Auch wenn Bookchin enttäuscht war, dass er den libertären Sozialismus nicht mehr erleben würde, so schloss er niemals aus, dass dieser nicht erreicht werden könnte.” Eine Resignation im Stil von Adorno habe er immer für dekadent gehalten. Bookchin habe die Utopie hochgehalten – eine Philosophie, die in Potenzialität gründete. “Das Prinzip Hoffnung war immer lebendig, weil das Potenzial der Menschheit, eine gute Gesellschaft zu erschaffen, immer da ist, solange Menschen existieren.”
Wie weiter mit unseren Bewegungen?
Auch wenn die momentan gesteckten Ziele einer Bewegung nicht erreicht werden, sei das keine Niederlage, fügte Mason Herson-Hord hinzu. Occupy habe nicht erreicht, was die Leute in den Strassen damals gefordert hätten. Trotzdem habe Occupy langfrsitig einen erstaunlichen Impact auf die Bewegungs-Landschaft ausgeübt, der fundamental für den Erfolg von Ideen wie Basisdemokratie und Sozialismus gewesen sei. Bernie 2016 wäre ohne diese narrative Verschiebung nicht möglich gewesen, ist Mason Herson-Hord überzeugt. Menschen, die von Occupy geprägt wurden, seien heute das Rückgrat der DSA (Democratic Socialists of America, Partei von Bernie Sanders) und anderen linken Bewegungen.
Dasselbe ist übrigens der Fall bei Bookchin: Seine Ideen sind beispielsweise von der kurdischen Bewegung aufgegriffen worden und haben einiges zur demokratischen Selbstverwaltung in Rojava beigetragen.
Chaia Heller zog eine Linie der sozialen Bewegungen von den 1960ern bis heute. Angefangen bei Bookchins Post-Knappheits-Philosophie (post-scarcity), die nicht nur Grundbedürfnisse stillen will, sondern ein gutes Leben und eine aktive politische Betätigung ermöglichen will, über die Befreiungsbewegungen der 70er wie Black Power, Bürger*innenrechte, Anti-Atom, zu den Parteigründungen der Grünen in den 80ern. 1999 bei der “Battle of Seattle” während der Anti-Globalisierungs-Bewegung habe sie zum ersten Mal den Slogan “fuck capitalism” auf der Strasse gehört. Vorher sei es unmöglich gewesen, das zu sagen. Im gesellschaftlichen Diskurs sei Kapitalismus vorher stets durch Euphemismen wie Marktwirtschaft ersetzt worden.
Occupy habe diese Linie weitergeführt und den Traum lebendig gehalten. Chaia Heller hat Occupy Wallstreet als ein fröhliches Festival erlebt, als etwas, das mit Begehren, Eros, Hoffnung und Poesie zu tun hat. Genau das sei auch in Bookchins Sozialer Ökologie stark verankert: dass Menschen nicht nur Tiere sind, die etwas zum Essen suchen, sondern dass sie das Potenzial für ein erfüllendes Leben haben. Martin Luther King habe gesagt: “We have a dream, we have to become human beings.” Der “Black Pride” sei es nicht nur ums Überleben gegangen, sondern darum, sich selber als Schwarz zu lieben. Diese utopischen Prinzipien, verankert in Potenzialitäten, hätten sich in einer ungebrochenen Linie von den 1960ern bis heute gezogen. Im Gegensatz zu ihren Freunden, die zumeist “wütende Boomers” seien, sei sie optimistisch: “Das Potenzial ist so real wie in den 80ern!”
Bookchin wäre aufgeregt, wenn er sähe, wie seine Art zu sprechen in der heutigen Linken wieder zurückkomme, meint dazu der Podcast-Moderator.
Organisiert sein für die kommenden Schocks
Die Rolle des Institute for Social Ecology sei nicht, ganz alleine eine Massenbewegung aufzubauen, fuhr Mason Herson-Hord fort. Das ISE wolle lediglich die Bausteine zur Verfügung stellen, um die diese Massen-Energie, die in den nächsten Jahren mit Sicherheit ausbrechen werde, konstruktiv zu absorbieren. Systemische Schocks wie die, die Occupy hervorgerufen haben, würden sich intensivieren. “Wir müssen organisatorisch vorbereitet sein und die politische Reife unserer Bewegungen muss soweit vorangeschritten sein, dass wir diese Gelegenheiten ergreifen und einen Vorteil daraus ziehen können”, betont Mason Herson-Hord.
Als Negativbeispiel nennt er die Obama-Bewegung 2008. Die jungen Leute seien optimistisch gewesen, aber die Bewegung sei in einer Sackgasse gelandet. Trotzdem habe sie ihr Gutes gehabt: “Es war ein Prozess der politischen Reifung, die nötig war, damit Occupy stattfinden konnte”, glaubt Herson-Hord. In der Geschichte habe es viele verpasste Gelegenheiten für Revolutionen gegeben. “Wir können uns nicht leisten, noch mehr zu verpassen!” Deshalb müssten wir bereit sein, wenn Krisen aufkämen, und fähig dazu, unseren Kämpfen die nötige Ausdauer zu verleihen.
“Wenn der Moment kommt, sind die Ideen da und die Leute haben eine Wissenbasis, um in diesen Momenten zu handeln”, ergänzt Chaia Heller. Dazu sei es nötig, die linke Tradition lebendig zu halten, das Feuer am brennen zu halten, Bildungsarbeit zu betreiben und diese Ideen zu verbreiten.
Auch die Praxis in sozialen Prozessen wie z. B. Kooperativen zählt Chaia Heller zur Bildungsarbeit. Auf konkrete Weise würden diese das soziale Baugerüst für unsere Bedürnisse bilden: Nahrungsmittelproduktion, Energieproduktion, Sicherheit, Care. Es seien Schulen, die uns lehren würden, wie wir Beziehungen zu einander aufbauen und Probleme gemeinsam lösen könnten. Gerade auch der Feminismus (der am ISE von Anfang an einen festen Platz hatte und gepflegt wird), habe in dieser Hinsich viel gebracht. Chaia Heller: “Lasst uns neu erfinden, wie wir menschliche Wesen sein können und uns mit Würde umeinander kümmern können.”
Foto: Goddard College, erster Standort des Institute for Social Ecology
1 Woodbine ist ein von Freiwilligen geführtes, experimentelles Zentrum in Ridgewood, Queens (New York), das “Praktiken, Fähigkeiten und Werkzeuge entwickelt, die nötig sind, um Autonomie aufzubauen.” www.woodbine.nyc
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