Murray Bookchin betont immer wieder, dass eine grosse Verwirrung um den Begriff “Politik” herrscht. Was die meisten Leute heute unter Politik verstehen, sollte eigentlich “Staatswesen” oder “Staatsräson” (engl. statecraft) genannt werden. Das Staatswesen umfasst alle Operationen, die den Staat involvieren: “Das Ausüben seines Gewaltmonopols; seine Kontrolle des ganzen regulativen Apparats der Gesellschaft in der Form von Körperschaften, die Gesetze und Verordnungen erlassen; seine Lenkung der Gesellschaft mittels professionellen Gesetzgeber*innen, Armeen, Polizeikräften und Bürokratien.”1
Dasselbe gilt für “politische” Parteien. Parteien sind oft hierarchisch und top-down strukturiert, sozusagen eine Miniaturform eines Staates. Sie werden geschaffen, um zu mobilisieren, zu befehlen, Macht zu erlangen und zu regieren. “Somit sind sie so inorganisch wie der Staat selbst – ein Auswuchs der Gesellschaft, der keine wirklichen Wurzeln in ihr und keine Sensitivität für sie hat, abgesehen von den Anforderungen von Interessen, Macht und Mobilisation.”2
Politik – im wirklichen Sinn – ist im Gegensatz dazu für Bookchin ein “organisches Phänomen”. Politik ist nicht aufgesetzt, sondern die natürliche, organische Aktivität einer Öffentlichkeit, einer Gemeinschaft. Politik involviert: “rationaler Diskurs, öffentliche Ermächtigung, das Ausüben praktischer Vernunft und ihre Verwirklichung in einer geteilten, wahrhaft partizipatorischen Aktivität.”
Politische Bewegungen im authentischen Sinn entstehen aus dem Gemeinwesen heraus, aus den “Graswurzeln”. Ihre Programme mögen zwar von Theoretiker*innen formuliert werden, doch vor allem stammen sie aus den gelebten Erfahrungen und Traditionen der Öffentlichkeit selbst.3 Bookchin denkt beispielsweise an die volksverbundenen Landwirtschaftsbewegungen in den USA und im russischen Zarenreich oder an die anarchosyndikalistischen und landwirtschaftlichen Bewegungen in der Spanischen und Mexikanischen Revolution.
Soziale Sphäre, politische Sphäre, Staatswesen
Bookchin unterscheidet drei Sphären:
- die soziale Sphäre (das Private, Familie, Freunde, Vereine, NGOs usw.)
- die politische Sphäre (= die öffentliche Sphäre)
- das Staatswesen
Diese drei Sphären müssen klar auseinandergehalten werden, um die sprachliche Verwirrung zu beenden. Wenn wir den Politikbegriff wieder zurückgewinnen wollen, müssen wir von den politisch mündigen Einwohner*innen4 und ihrer unmittelbaren Umgebung ausgehen: Sobald wir unsere private Sphäre verlassen und einen Fuss vor die eigene Haustür setzen, treten wir in die öffentliche Sphäre unserer unmittelbaren Community ein. “There can be no politics without community – Es gibt keine Politik ohne die Gemeinde”, sagt Bookchin.5 Mit “Community” meint er eine “munizipale Assoziation”, also alle Personen, die an einem Ort leben.
Damit eine Gemeinde “politisch” tätig sein kann, benötigt sie:
- ihre eigene ökonomische Macht6;
- ihre eigene Institutionalisierung der “Graswurzeln”;
- die konföderale Unterstützung der benachbarten Gemeinden in einem territorialen Netzwerk auf lokaler und regionaler Ebene.
Die Kommune als die authentische politische Einheit
“Die authentische Einheit des politischen Lebens ist effektiv die Gemeinde, entweder als Ganzes, wenn sie nach menschlichen Massstäben skaliert ist, oder in ihren verschiedenen Unterteilungen, insbesondere die Nachbarschaft.” Nach Bookchin kann Politik nicht als Delegation von politischer Macht konzipiert werden – Demokratie, verstanden als Selbstverwaltung der Menschen, ist total unvereinbar mit der republikanischen Vision einer Herrschaft durch Repräsentant*innen. Um die Politik wieder zu den Menschen zurück zu bringen, müssten lokale Versammlungen (wieder) institutionalisiert werden, sei es in Form von Gemeindeversammlungen, sei es als Nachbarschafts- oder Block-Versammlungen in den Städten.
Murray Bookchin benennt seine Vision der politisch selbstermächtigten Gemeinden mit Begriffen wie libertärer Munizipalismus, Kommunalismus oder konföderaler Munizipalismus. (Ein weiterer Begriff wäre demokratischer Konföderalismus.) Er betont aber, dass er kein fertiges Programm oder Patentrezept vorlegt, sondern eine sich verändernde, formative Perspektive aufzeigen will: “Ein Konzept von Politik und Bürger*innenschaft (citizenship), um letztlich Städte und die urbane Megalopolis ethisch wie räumlich, politisch wie ökonomisch zu transformieren.”
Buch-Empfehlung: From Urbanization to Cities, www.akpress.org/fromurbanizationtocities-ebook.html
1 Murray Bookchin, From Urbanization to Cities, Neuauflage 2021, S. 255
2 Bookchin 2021, S. 256
3 Parteien hingegen drängen ihre Ideologien der Öffentlichkeit von aussen auf, während ihre Verbindungen zur Gesellschaft schwach und eher konzeptuell sind. Sie tendieren auch dazu, Institutionen, die von radikalen populären Bewegungen geschaffen worden sind, zu übernehmen und sie entlang staatlicher Linien umzugestalten, so geschehen in der Bolschewistischen Revolution 1917–1921, Bookchin 2021, S. 256f.
4 Bookchin verwendet hier das Wort citizen, Bürger*in, aber nicht im Sinn von Staatsbürger*in, sondern im ursprünglichen Sinn als politisch mündige*r Einwohner*in einer Stadt (city). Es wäre an der Zeit, das Wort Bürger*in, engl. citizen, frz. citoyen, wieder zu seinen kommunalistischen Wurzeln zurück zu bringen und von seiner „staatlichen“ Belastung zu befreien.
5 Bookchin 2021, S. 257
6 Ein aktuelles Beispiel für die Synergien von alternativer Ökonomie und politischer Selbstverwaltung ist Cooperation Jackson, cooperationjackson.org
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