In “The Philosophy of Social Ecology” widerlegt Murray Bookchin die mechanistische Weltanschauung, der zufolge der Mensch dazu berufen ist, die Natur zu beherrschen und auszubeuten. Bookchin sieht die Natur als eine unaufhörliche dialektische Bewegung hin zu immer grösserer Vernunft, Diversität, Komplexität und Freiheit. Daraus ergibt sich eine ökologische Ethik, die aus der Natur selbst abgeleitet ist. Die Pflicht zum naturverantwortlichen Handeln ist nicht bloss ein subjektives Gefühl, sondern ein Gebot der Vernunft. Die Neuauflage (2022) dieses Werks fällt in eine Zeit, in der alle Kraft aufgeboten werden muss, um die zögerliche Weltgemeinschaft von der Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation zu überzeugen, damit die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels abgewendet werden können.
Die Warnrufe der Klimawissenschaftler*innen werden immer lauter, aber die Antworten darauf sind bestenfalls Greenwashing oder technokratische “Lösungen”, schlechtestenfalls autoritäre Massnahmen wie militärische Aufrüstung und Grenzschutz. Das Buch “The Philosophy of Social Ecology” von Murray Bookchin zeigt einen anderen Ausweg: Es fordert eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, basierend auf einer natürlichen Ethik, die Freiheit und Demokratie als höchste Werte verteidigt. Es bietet einen Gegenentwurf zum ewigen Wachstumszwang des Kapitalismus, der uns an die Schwelle der Zerstörung gebracht hat, wie Debbie Bookchin, Journalistin, Autorin und Tochter von Murray Bookchin, kürzlich an einer Buchvorstellung sagte.
Der Theoretiker Murray Bookchin geht davon aus, dass die beste Gesellschaftsform eine radikal dezentralisierte Gesellschaft ist, in der Politik auf der elementarsten Ebene stattfindet, nämlich in der lokalen Community. Zwischen Individuen, die sich mit direktdemokratischen Versammlungen organisieren und ihr Leben gemeinsam regeln. Für diese Behauptung, die er in zahlreichen Werken aufgestellt und erläutert hat1, versucht er in “The Philosophy of Social Ecology” eine objektive Grundlage zu finden. Sein Anspruch ist, eine Ethik zu formulieren, die das menschliche Handeln anweisen kann, wenn es darum geht, Entscheidungen über die Organisation der Gesellschaft zu fällen.
Dialektik in der Natur
Die herkömmliche Rationalität mit ihrem mechanistischen Weltbild vermag dies nicht zu leisten. Wenn die Welt nur aus toter Materie im Raum besteht, die, einmal angestossen, ziellos umhertreibt, kann daraus keine Gesellschaftsutopie abgeleitet werden. In dieser Weltsicht fehlt etwas. Bookchin findet das fehlende Element in der Dialektik.
Dialektik heisst, dass der Motor, der das Weltgeschehen antreibt, der Widerspruch ist. Dinge sind nicht nur das, was sie im Moment gerade sind, sondern sie “sind” auch das, was sie werden könnten. Ein Fötus ist nicht nur eine Ansammlung von Zellen, sondern er trägt das Potenzial in sich, zu einem erwachsenen Menschen heranzuwachsen. In der Natur lässt sich überall das Streben beobachten, dass alle Dinge das in ihnen schlummende Potenzial verwirklichen wollen. Das äussert sich sowohl in der Entwicklung von Einzellebewesen als auch in der Evolution als eine Tendenz zu immer grösserer Komplexität, Diversität und Kreativität. Das ist keine ziellose, blinde Bewegung wie im mechanistischen Weltbild, sondern eine gerichtete Bewegung.
Dieses Auf-ein-Ziel-gerichtet-Sein wird auch “Teleologie” genannt und das ist etwas, was in der Naturwissenschaft äusserst verpönt ist. Teleologie besage, so der Vorwurf, dass sich alles zu einem Endziel hin entwickle, das entweder von einem Gott oder durch andere Zwänge vorherbestimmt sei. Nun, Bookchin spricht eben nicht von Teleologie, sondern von Dialektik, und die hat – so wie Bookchin sie versteht – immer einen offenen Ausgang. Mehr noch: Kreativität und Freiheit ist gerade ihr entscheidendes Grundmerkmal. Eine vom Baum gefallene Eichel kann zu einer Eiche heranwachsen oder sie kann auf dem Asphalt verdorren. Evolutionäre Entwicklungslinien können aussterben oder sie können über Verästelungen und Umwege immer höhere Organismen hervorbringen, vom Einzeller über Pflanzen und Tiere bis zu den vernunftbegabten Menschen. Nicht, weil es Gott oder die Vorhersehung so gewollt haben, sondern weil es der inneren Logik der Dinge entspricht – ihrer dialektischen Strukturiertheit.
Widerspruch als Motor des Wandels
Bookchin baut seine Dialektik in der Tradition von Aristoteles und Hegel auf, ergänzt durch den Evolutionsgedanken und eine “organistische” Sensibilität, wie sie bereits durch Philosophen von Diderot bis Hans Jonas beschrieben wurde. Er bezeichnet seine Philosophie als “dialektischen Naturalismus”, um sie einerseits von Hegels idealistischer Dialektik und andererseits vom dialektischen Materialismus von Marx und Engels abzugrenzen. Während Hegel vom “Geist” aus denkt, der sich in der materiellen Welt verwirklicht und im menschlichen Geist “zu sich selbst” gelangt, steht Bookchin klar auf der materialistischen Seite. Alles Übersinnliche lehnt er ab. Genauso lehnt er aber einen vulgären, mechanistischen Materialismus ab, der im Stofflichen nur die leblose Materie2 sieht.
Ein dialektischer Materialismus genügt ihm daher nicht, er fordert einen dialektischen Naturalismus. An Engels “Dialektik der Natur” kritisiert er, dass sie trotz allem auf dem Stand der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts stehengeblieben ist und die dialektische Entwicklung in der Natur zu wenig berücksichtigt.3
Bookchin rehabilitiert übrigens Hegel in gewisser Hinsicht, der – leider bis heute – oft missverstanden wird als ein Verteidiger des Status quo und des preussischen Staats. Bei der Hegel-Interpretation wird oft übersehen, dass Hegel nicht den Ist-Zustand beschreibt, wenn er sagt, dass das Vernünftige das Wirkliche ist. Wie Bookchin erklärt, unterscheidet Hegel zwischen Realität und Wirklichkeit. Realität ist das, was ist; die Wirklichkeit einer Sache ist aber das, wozu sie sich entwickeln kann. Hegel und Bookchin sind keine Philosophen des Seins, sondern des Werdens. Die verdorrte Eichel auf dem Asphalt mag real sein, aber dieser Zustand ist nicht ihre “Wirklichkeit”. Es ist nicht das, was sie sein könnte – und sein sollte.
Todd McGowan, der das Vorwort zur neuen Auflage von “The Philosophy of Social Ecology” geschrieben hat, verdeutlicht das in Bezug auf Bookchins Gesellschaftskonzeption: Die soziale Realität ist, dass wir in einer kapitalistischen, mysoginen, rassistischen Gesellschaft leben. Die Gesellschaft besitzt aber eine untergründige, verdeckte Wirklichkeit, nämlich das Potenzial, egalitär, solidarisch und frei zu sein.
Gesellschaftlichen Wandel erklärt Bookchin – wie Marx – aus dem Widerspruch. Die Gesellschaft ändert sich – wird auf eine höhere Stufe aufgehoben –, wenn der Widerspruch zwischen dem, was sie ist, und dem, was sie sein könnte oder sein sollte, allzu gross wird. Bookchin ist somit durch und durch Revolutionär, nicht nur als Politiktheoretiker, sondern auch als Philosoph.
Der Punkt von Bookchins Philosophie ist laut Todd McGowan, “das Wirkliche im Realen zu erkennen”. Wird das Wirkliche erkannt, kann es realisiert werden und mit ihm zusammenfallen: Aus dem Widerspruch zwischen Identität (der gesellschaftliche Status quo “ist”, d. h. er ist mit sich selbst identisch) und Nicht-Identität (es ist eine andere Gesellschaft denkbar als die, die momentan “ist”) wird eine neue Identität: eine neue Gesellschaft. Phänomene, die noch unvollkommen und unverwirklicht sind, befinden sich in einer dynamischen Spannung mit sich selber, bis sie zu dem werden, wozu sie aufgrund ihrer inneren dialektischen Strukturiertheit zu werden konstituiert sind – das gilt auch für die Gesellschaft.
Debbie Bookchin betont, dass es dabei kein teleologisches Endziel gibt, keine utopische Idealgesellschaft, sondern nur das Potenzial dazu: “Es liegt an den Menschen, rationale Entscheidungen zu treffen und dieser Wirklichkeit zur Realität zu verhelfen.”
Der Platz des Menschen in der Natur
Mit dieser gross angelegten Ethik begründet Bookchin nicht nur seine politischen Visionen. Er liefert gleichzeitig auch ein Fundament für ökologisches Handeln. Sein dialektischer Naturalismus beantwortet nämlich eine grundlegende Frage: In welchem Verhältnis stehen Mensch und Natur zueinander; wo in der Natur hat der Mensch seinen Platz?
Aus der Tendenz zu immer mehr Komplexität, Diversität und Kreativität, die mithin eine Bewegung hin zur Freiheit ist – politische Freiheit in Form von Demokratie und Freiheit in dem Sinn, dass nie vorhergesagt werden kann, in welche Richtung sich die Evolution entwickelt – ergibt sich wörtlich eine “Ökologie der Freiheit”. Der Mensch ist ein Teil der dialektischen Bewegung der Natur, was eine ganz andere Konzeption ist als diejenige des dualistisch-mechanistischen Weltbilds, in der der Mensch klar von der Natur getrennt ist und auf sie herabschaut. Für Bookchin verläuft die Entwicklung von der Natur zum Menschen graduell. Nicht absolut getrennt, aber auch nicht ein mystisches “All-Eins” wie in esoterischen Naturkonzeptionen. (Als Materialist warnt Bookchin davor, die Natur zu mystifizieren.4) Sondern ein Kontinuum mit feststellbaren, graduellen Unterteilungen. Bookchins Naturphilosophie ist eine Beschreibung der sich entfaltenden Wirklichkeit – als natürliche Evolution, die graduell in soziale Evolution und Ethik übergeht.
Die Menschen haben somit eine einzigartige Stellung im Kontinnum der Natur. Als selbstbewusste, vernunftbegabte Wesen sind sie zu verantwortlichem Handeln verpflichtet. Es gilt für sie folglich der Imperativ, die bisherige, kapitalistische Naturausbeutung zu beenden und der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen: Freiheit für die Natur und gesellschaftliche Freiheit.
Die in der Evolution anzutreffende Tendenz zu mehr Wahlmöglichkeiten, Selbstbestimmtheit und Partizipation ist an sich schon ethisch. Auch wenn diese Prinzipien, wie Mutualismus (Gegenseitigkeit), Freiheit, Intersubjektivität und Selbstorganisation in der Natur nur in Spuren vorkommen, sind sie eine Vorahnung dessen, was in einer ethischen Gesellschaft zur vollen Blüte gelangen könnte.
Eine Philosophie für die Ökologiebewegung
Das gut lesbare, nicht allzu dicke Buch “The Philosophy of Social Ecology” besteht aus fünf Essays, in denen die Thematik verständlich ausgebreitet wird. Zahlreiche weitere Aspekte der Naturphilosophie werden angesprochen, auf die hier nicht eingegangen werden soll, beispielsweise Bookchins Warnung vor allen esoterischen Naturbildern (die in Ökofaschismus kippen können) oder seine Kritik an der Systemtheorie, in der das dialektische Moment fehlt und somit auch die ethische Komponente und die antikapitalistischen Schlussfolgerungen. Einen bedeutenden Einfluss auf Bookchin haben Adorno und Horkheimer5, deren Pessimismus er ins Optimistische kehrt. Wie Todd McGowan im Nachwort andeutet, nimmt Bookchin auch eine Kritik an Theorien wie Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie vorweg, die einem “sentimentalen” Naturbild anhängen und die Rolle verkennen, die der Widerspruch in der Natur spielt.6
Angesichts der Klimakrise, die bereits in Teilen der Welt erbarmungslose Realität ist, kann es sich die Ökologiebewegung nicht mehr leisten, auf wackligen theoretischen Füssen zu stehen. Eine intellektuelle Konfusion kann schädliche Auswirkungen von unmessbarem Ausmass erzeugen, warnt Bookchin. Die Philosophie der Sozialen Ökologie, der dialektische Naturalismus, gibt ethische Richtlinien vor, die heute dringend benötigt werden. Es ist zu hoffen, dass diese Theorien vermehrt in die aktuellen Diskurse einfliessen. Sie können der Ökologie- und Klimabewegung als starke theoretische Grundlage dienen, um für politische Schritte zu argumentieren.
In unserer historischen Situation müssen wir rationale Entscheide treffen. Für Bookchin heisst das, eine rationale Gesellschaft zu erschaffen und die irrationale Gesellschaft, in der wir momentan leben, radikal zu überwinden. Freiheit bedingt Veränderung, Entwicklung, Transformation: Wir müssen vom blossen Sein zum Werden gelangen.
“Eine Gesellschaft, die darin scheitert, ihre Potenziale für menschliches Glück und Fortschritt zu aktualisieren, ist zwar real in dem Sinn, dass sie existiert, aber sie ist nicht wirklich sozial. Sie ist unvollkommen und verzerrt, insofern als sie lediglich weiterbesteht, und daher irrational.” 7
Murray Bookchin, “The Philosophy of Social Ecology – Essays on Dialectical Naturalism”, AK Press 2022
Gespräch mit Debbie Bookchin und Todd McGowan zur Neuerscheinung 2022:
1 Beispielsweise in “The Ecology of Freedom”.
2 Für Bookchin ist Materie nicht tot, sondern lebendig und fruchtbar (“fecund”). Damit meint er jedoch nicht etwas Übersinnliches, sondern einfach eine grundlegende Beschaffenheit von Materie: Sie besitzt eine natürliche Tendenz zur Selbstorganisation, wie sie z. B. an der Schwelle vom Anorganischen zum Organischen sichtbar wird. Es braucht also keinen Gott und keinen “élan vital”, der die Materie beseelt und ihr “autoritär” eine Absicht einflösst, sondern die Materie organisiert sich “demokratisch” selber.
Bookchin bezieht sich auch auf Denis Diderot (“D’Alemberts Traum”) und dessen Vorstellung, dass die Materie eine “sensibilité” besitzt. Bookchin spricht von einer immanenten Fruchtbarkeit der Materie (“immanent fecundity of matter”) und ihrem Drang zur Komplexität (“nisus for complexity”). “Eine Entelechie, die aus dem Wesen, der Struktur und Form der Potenzialität selbst emergiert” (Bookchin 2022, Kapitel “Toward a Philosophy of Nature: The Bases for an Ecological Ethics”, S. 48)
3 Anzufügen wäre, dass seit einiger Zeit versucht wird, Marx ökologisch und evolutionsbiologisch (mit Darwin) zu lesen, wie es beispielsweise John Bellamy Foster tut. Diese Theorien sind sicher zutreffend, reichen aber in der philosophischen Tiefe nicht an Bookchins dialektischen Materialismus heran. Bookchin kritisiert unter anderem auch, dass der (marxistische) dialektische Materialismus wenig mehr getan habe, als mit hegelianischen Begriffen und Konzepten einen szientistischen “dialektischen” Mechanismus zu formulieren. (Bookchin 2022, S. 111, Fussnote 63.) Zur Kritik des Darwinismus siehe ferner: Hans Jonas, “The Phenomenon of Life”, zweiter Essay “Philosophical Aspects of Darwinism”.
4 “Biozentrismus”, Antihumanismus und die Sichtweise, dass Menschen nur “intelligente Flöhe” auf dem Körper von “Gaia” sind, lehnt Bookchin scharf ab. Eine solche “Verehrung” der Natur sei nicht nur eine Entfremdung und Verdinglichung, sondern negiere auch jeglichen Respekt für die Diversität des Lebens. (Bookchin 2022, S. 69) “Als eine Art, über die Realität nachzudenken, ist dialektischer Naturalismus organisch genug, um vagen Wörtern wie Verbundenheit und Holismus eine emanzipierendere Bedeutung zu geben, ohne Intellektualität zu opfern.” (Ebd., S. 17)
5 Insbesondere kehrt Bookchin Adornos und Horkheimers These um, dass Herrschaft über Menschen eine Konsequenz davon ist, dass die Menschen gezwungen sind, die Natur zu beherrschen. Bookchin sagt umgekehrt: Die Idee, die Natur zu beherrschen, entstammt der Herrschaft von Menschen über Menschen.
6 Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dialektischem Naturalismus und Akteur-Netzwerk-Theorie und ähnlichen Richtungen werden ausserdem in folgenden Büchern erläutert: Damian F. White, Alan P. Rudy, Brian J. Gareau: “Environments, Natures and Social Theory” sowie Brian Morris, “Anthropology and Dialectical Naturalism”.
7Alle Übersetzungen: Netzwerk für Kommunalismus
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