Damit aus den Funken ein Feuer wird

Delegierte von sozialen Bewegungen aus aller Welt kamen im November 2023 in Basel (Schweiz) zum Kongress «The Art of Freedom» zusammen. Auf eindrückliche Weise zeigten sie, dass Alternativen zur Kapitalistischen Moderne bereits an vielen Orten existieren, von Oromia (Äthiopien) über Indien, Philippinen, Kurdistan und Kolumbien bis zum Baskenland. All diese glühenden Funken sollen zu einem Feuer verbunden werden. Insbesondere den Frauen und der Jugend kommt dabei eine wichtige Rolle zu.

«Wir sind reich!», sagte eine Konferenzteilnehmerin nach der Schlussdisskussion. Ein Gefühl von Hoffnung lag in der Luft: Drei Tage lang hatten Exponent*innen aus verschiedenen Bewegungen ein Bild davon gemalt, wie eine andere Welt aussehen könnte und wie die «Kunst der Freiheit» gelebt werden kann.

Den verbindenden theoretischen Hintergrund bildete das Konzept der «Demokratischen Moderne», das Paradigma des kurdischen Denkers Abdullah Öcalan. In einem Veranstaltungsblock forderten die Konferenzteilnehmer*innen lautstark seine Freilassung und eine politische Lösung der «kurdischen Frage».

In den Panels und Vorträgen ging es um Bottom-up-Organisierung, um Strategien des kollektiven Widerstands, um die Erneuerung des Sozialismus oder um die Frage, wie das dominante System der «Kapitalistischen Moderne» tiefer analysiert und überwunden werden kann. Zur Konferenz eingeladen hatte die «Akademie der Demokratischen Moderne» (ADM), wobei sich nicht alle Referent*innen explizit als Anhänger*innen des Demokratischen Konförderalismus verstehen. Auch wenn das gemeinsame Ziel dasselbe sei, gebe es verschiedene Weltsichten, wurde immer wieder betont. Der Weg sei nicht vorgegeben, sondern ein «Lernen beim Vorwärtsgehen».

Die gemeinsame Vision könnte trotzdem, obschon nicht alle diese Sprache benutzen, als «Demokratischer Welt-Konföderalismus» beschrieben werden. Nahezu alle Redner*innen setzten sich für einen neuen Internationalismus ein und erkannten als dringendste Aufgabe, die vielen Alternativen zu einer globalen Allianz zu verbinden.

Eine globale Allianz der Frauen

Die tiefsten strukturellen Widersprüche des herrschenden Systems sind diejenigen, die Frauen betreffen. Sie leiden besonders unter Krieg, Migration, Armut, Gesundheitsproblemen, ökonomischen und ökologischen Problemen. Gleichzeitig sind Frauen die Aktivsten im Widerstand gegen dieses System. Eine Vertreterin von «Women Weaving Future» verwies auf die Frauenaufstände in Iran, Ägypten, Sudan, Tunesien, Yemen, Saudiarabien, Afghanistan oder in Abya Yala; auf die 2019 von «Las Tesis» in Chile ausgelöste Welle; auf «Me Too» oder auf die Frauen-Selbstverteidigung nach den Invasionen von Kobane, Afrin und Serekaniye. «Es sind wie Funken, die aufleuchten.» Wie können wir sie zu einer nachhaltigen und konstanten Bewegung kanalisieren?

Der Analyse von Abdullah Öcalan folgend, dass die Wurzel des Problems die Frauenfrage ist, kam die Referentin zum Schluss, dass wir eine Alternative zum dominierenden System schaffen müssen. «Unsere Alternative muss die Einheit der Frauen sein.» Dabei müssten wir die Staatslogik überwinden: «Wenn wir nur ein Frauenministerium fordern, kommen wir nicht weit.» Frauen sollten nicht patriarchale Normen als Fundament nehmen, sondern eigene Werte entwickeln und eine unabhängige Bewegung formen, die Frauen auf der ganzen Welt nützt. Das Wichtigste sei, die Frauenkämpfe auf der ganzen Welt zu verknüpfen.

Genau das ist das Ziel von «Women Weaving Future». Die Organisation hat 2018 die erste Welt-Frauenkonferenz abgehalten und seither Seminare und Camps organisiert und mitgeholfen, Kommunen, Räte, Institutionen, legale Strukturen und People’s-Power-Strukturen aufzubauen. Beteiligte Frauen kamen zusammen, führten wichtige Diskussionen und bildeten Allianzen mit verbündeten Kräften. An der zweiten Konferenz von 2022 diskutierten sie, wie der Frauen-Welt-Konförderalismus aufgebaut werden kann. «Das Ziel ist, eine globale Allianz der Frauen zu schaffen», sagte die Referentin. Dadurch entstehe gleichsam eine neue Perspektive auf den Internationalismus: «Alle Frauen können ihre eigene, freie Persönlichkeit entwickeln und ihren Ausdruck des Kampfes.»

Es sei im Übrigen nicht so, dass die kurdische Frauenbewegung den Rahmen vorgebe. «Wir machen lediglich einen Vorschlag», erklärte die Referentin. Es handle sich um einen transparenten, offenen Prozess. Es sei weder eine Soli-Bewegung, noch werde erwartet, dass sich alles um die kurdische Bewegung herum organisiere. Wichtig sei, zusammenzuarbeiten und gemeinsame Lösung für eine Frauenbewegung zu entwickeln.

Durch die demokratische Moderne zum demokratischen Sozialismus

Ein Mitglied der Akademie der Demokratischen Moderne (ADM) bezeichnete die Frauenbewegung – und die Jugendbewgung – als Pioniere eines demokratischen Sozialismus. Obwohl sie ihre eigenen strategischen Projekte hätten, seien sie auch wichtig für den allgemeinen Demokratischen Welt-Konföderalismus.

Ausgehend von Öcalans Diktum «Auf Sozialismus zu bestehen, bedeutet auf Menschlichkeit zu bestehen», zeigte der Referent auf, wie wir zum demokratischen Sozialismus gelangen, indem wir die Demokratische Moderne als unsere Alternative zum hegemonialen Modell der Kapitalistischen Moderne formulieren. Die drei Grundpfeiler sind der Demokratische Konföderalismus als alternative Verwaltungsform gegenüber dem Nationalstaat, ökologische Industrie als Alternative zum Industrialismus, und demokratischer Sozialismus. Damit das alternative System real wird, müssen wir unsere eigene Moderne kreieren.

Dazu gehört unter anderem ein neuer Internationalismus, der auf Solidaritätsbeziehungen ausserhalb der Nationalstaaten beruht. Aber es gibt auch politische Aufgaben, etwa Politik neu zu denken – losgelöst von liberalen Demokratievorstellungen, ausserhalb von Parlamenten – als «Kunst der Freiheit» («The Art of Freedom», so auch der Titel der Konferenz). Und schliesslich müsse die kulturelle Hegemonie, «der mentale Komplex, der den Kapitalismus lebendig hält», überwunden werden. Das heisse auch, dass Wissensproduktion nicht mehr an Schulen und Universitäten geschehe, sondern dass sich autonome Bildungsinstitutionen zu einer «Welt-Konföderation der Akademien» vernetzen.

Alternativen existieren bereits

«Das Ende des Kapitalismus ist leicht vorstellbar, wenn wir Alternativen bieten. Und diese existieren bereits!» – Die Referentinnen von «Global Tapestry of Alternatives» (GTA) versprühten viel Hoffnung, indem sie aufzeigten, dass Menschen überall auf der Welt Widerstand leisten und Parallelstrukturen aufbauen. Die 2019 gegründete GTA will einen bunten «Wandteppich» weben, dessen einzelne Fäden einzigartig und verschieden sind, sich aber gegenseitig verstärken. Inspiriert ist GTA unter anderem von Konzepten wie Ubuntu, Agroökologie, Sumaq Kawsay (buen vivir), Klimagerechtigkeit, Produktion in Arbeiter*innen-Besitz, Ernährungssouveränität oder Commons. Diese drücken sich in neu entstehenden Normen aus: Intersektionalität, Solidarität, Kommunalismus, pluriversales Denken, Degrowth.

GTA versteht sich nicht als Organisation, sondern als Prozess. Ziele sind, Räume der Kollaboration, des Lernens und des Austausches zu schaffen; den Alternativen Sichtbarkeit zu verleihen; aktive Solidarität zu leisten; alles «in der Hoffnung, dass wir für die grosse Transformation zusammenkommen können.»

Die GTA verknüpft Netzwerke, die bereits existieren, damit sie sich gegenseitig befruchten. Die Bewegung ist dezentral organisiert, Entscheidungen werden von einer Versammlung getroffen, die sich aus «Endorsers» (über 75 Organisationen) und «Weavers» («Webende», also Personen, die in der Praxis vor Ort aktiv sind) zusammensetzt. Die Erfahrungen und Geschichten dieser Menschen werden in einem Magazin erzählt und die Alternativen werden in einer Open-Source-Karte dargestellt.

Von Kolumbien bis Van

Eine Genossin aus Kolumbien stellte den «Congreso de los pueblos» vor. Schwarze, indigene und bäuerliche Communities sowie Frauen und Studierende wehren sich seit Jahren gegen Ausbeutung und Extraktivismus. 2008 verbanden sie sich zu einem Kongress. Inhaltliche Schwerpunkte sind Selbstverwaltung, populäre Macht, partizipative Demokratie oder die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Es werden Versammlungen (asambleas populares) durchgeführt, Kooperativen gegründet und gemeinnützige Werke (z.B. Wasserversorgung) aufgebaut, aber auch direkte Aktionen durchgeführt (z. B. Landbesetzungen). Im Zuge dessen entsteht auch eine neue Kultur, eine neue Solidarität, eine neue Identität, die unter anderem mit Gemeinschafts-Radios in der Bevölkerung verbreitet wird. Auch die indigene Autonomie in den Dörfern, die mit den Konzepten der minga und tulpa eine Tradition besitzt, wird verteidigt. Altes indigenes Wissen wird bewahrt, ebenso die einheimische Samen-Diversität, die zur Ernährungssouveränität Kolumbiens beiträgt. Der Zugang zu Land soll durch kommunitäre Räte organisiert werden. Wichtig sind ferner auch die Selbstverteidigung, die Mobilisierung auf der Strasse sowie die institutionale Dimension des Kampfes – immer in Kombination mit Druck von unten und einem «Bottom-up»-Ansatz.

Weitere Veranstaltungsblöcke drehten sich um die Unabhängigkeitskämpfe in Katalonien, im Baskenland und in Oromia, oder um Graswurzelbewegungen für «People’s Power» in Sudan und Südafrika. Es wurde beschrieben, wie die «People’s Houses» in Italien funktionieren und wie die Kommunen in Venezuela kollektive Unternehmen sowie Wohn-, Gesundheits- und Bildungsprojekte betreiben.

Die gewählte Bürgermeisterin von Van in Nordkurdistan, die ihr Amt wegen des Rekolonisierungsprozesses des türkischen Staates verlassen musste, beschrieb, wie Probleme des täglichen Lebens auf Nachbarschafts-Ebene gelöst wurden, von der Wasserversorgung bis zur Geschlechtergleichheit. Manche Referate thematisierten auch die widersprüchlichen Beziehungen zu liberalen Institutionen und zum Staat.

Pluriversum: viele Weisen, die Welt zu verstehen

Ein Vormittag während der Konferenz war für fünf parallele Workshops reserviert. Die Themen reichten von Widerstands-Geschichte über den transnationalen Klassenkampf bis zu lokaler Demokratie (die auch das «Mehr-als-Menschliche» umfasst). In der Schlussdiskussion am Sonntagnachmittag ging es unter anderem um die Klimakrise oder um die Frage, wie und ob der Staat und die nationale Ebene genutzt werden können.

Anzumerken ist, dass in den Panels eine breite Bandbreite an Positionen vertreten war, vor allem in Bezug auf die Rolle des Staates. Wie die Referentin aus Kolumbien in der Schlussrunde meinte, sollten wir nicht den Fehler der kapitalistischen Moderne wiederholen und nur «einen Gott, eine Antwort, eine ideologische Perspektive» gelten lassen. Das Grundlegende sei die Organisierung, und diese könne vielfältige Formen annehmen. Das heisse auch, dass sie die bestehenden Institutionen umfassen könne. Die Frage sei: «Wie können wir die Institutionen nutzen, verändern oder abschaffen?» Wichtig sei, die kommunalen Beziehungen zu stärken, den Zugang und die Nutzung von Ressourcen für alle zu ermöglichen und die fortschreitende Kommerzialisierung zu stoppen. Das alles brauche Zeit und müsse Schritt für Schritt geschehen: «Damit sich die Funken zu einem Feuer vereinigen.»

«Es gibt nicht die eine Lösung», stimmte eine Panelistin aus Indien zu. Es gebe ein Pluriversum – viele Weisen, die Welt zu verstehen. So könne der Demokratische Föderalismus nicht per «copy and paste» auf Indien übertragen werden. Aber er biete wertvolle Lektionen, beispielsweise wie Versammlungen organisiert und zu Konföderationen vernetzt werden könnten. Wie ein Raum geschaffen werden könne, der sich jenseits der Räume des Nationalstaats befinde. «Das sind Prinzipien, die überall gelten.» All die laufenden Experimente sollten nicht unter eine einzige Theorie gestellt werden. Durch ihre Praxis würden sie nämlich ihre eigene Theorie schaffen. Beispielsweise sei «buen vivir» eine Theorie, die aus dem täglichen Leben entstehe.

Eine Referentin aus Südafrika fügte hinzu, dass wir nicht alle dieselbe Sprache sprechen müssten. Es sei ein Ausdruck von «kognitiver Gerechtigkeit» (cognitive justice), wenn wir verschiedene Kosmovisionen akzeptierten, auch wenn es sich unbequem anfühle. Es sei von grosser Bedeutung, wie wir unsere Bewegungen international «hochskalieren» könnten. «Wie wir das tun, müssen wir gemeinsam herausfinden.»

Gegenmacht: Die Zeit zum Handeln ist jetzt

Gerade im globalen Norden stellt die Referentin aus Südafrika eine kognitive Dissonanz fest. Die Menschen hier seien nicht auf dieselbe Weise in den Widerstand eingebunden wie Menschen im globalen Süden. Sie wüssten zwar, dass sie handeln müssten, täten es aber nicht. Sie seien jetzt gefragt, ihre privilegierten Körper einzusetzen. «Und wir sollten einander respektieren und füreinander sorgen, während wir das tun.»

In dieselbe Richtung zielte ein Video-Statement eines Internationalisten in Rojava. Jetzt sei der Moment für Aktion. Wir müssten über rein symbolische Solidarität hinaus gelangen und unsere Strukturen international verbinden, um Gegenmacht aufzubauen.

Weitere Infos:
Konferenz «The Art of Freedom»Akademie der Demokratischen Moderne
Internationale Initiative «Freedom for Öcalan – Peace in Kurdistan»
Wandbild (aus dem Workshop «Geschichte und Widerstand») – Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK)
Global Tapestry of Alternatives
Women Weaving Future
Vikalp Sangam

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