Versammlung als Gegenmacht: Erfahrungen aus Frankreich

In Frankreich wird Kommunalismus vermehrt diskutiert, wie neulich im Podcast von Fréquence Commune. Eine andere Art, Politik zu betreiben: Die Menschen geben nicht einfach ihre Zustimmung, dass sie regiert werden, sondern üben die Macht direkt aus, indem sie sich in Versammlungen organisieren. Eine vielversprechende Perspektive im Hinblick auf die Kommunalwahlen 2026 – auch als Gegenbewegung zum erstarkenden Faschismus.

Der Podcast beginnt mit der Frage, was der Grund für Aufstieg des Faschismus in Frankreich ist. Die Antwort: Die Leute fühlen sich in der zentralistischen, neoliberalen 5. Republik nicht repräsentiert von der politischen Klasse, die nur die Interessen Weniger vertritt. Die repräsentative Politik führt auch dazu, dass die Bevölkerung fragmentiert ist, weil es keine Orte gibt, an denen Diskussionen zwischen den Menschen stattfinden können.

Aber es gibt auch eine andere Art, Politik zu machen: Die Idee des Kommunalismus ist, dass politische Macht an Volksversammlungen übertragen wird – also dass Räume entstehen, in denen die Menschen kollektiv beraten und Entscheidungen treffen können. „Eine Versammlung kann Menschen über partikuläre Bruchlinien hinweg zusammenbringen und sie mit total verschiedenen Meinungen konfrontieren, was auch die Möglichkeit einschliesst, die eigene Meinung zu ändern – das ist ein grosser Vorteil gegenüber der repräsentativen Demokratie“, sagt Sixtine Van Outryve d’Ydewalle. Die Politikwissenschaftlerin hat kürzlich eine Doktorbeit zu diesem Thema geschrieben, mit dem Titel „Theorie und Praxis der kommunalistischen direkten Demokratie. Selbstverwaltung durch das versammelte Volk“ (Théorie et pratique de la démocratie directe communaliste. L’autogouvernement par le peuple assemblé).

Das Gegenteil des heutigen Macht-Systems

Kommunalismus (oder „libertärer Munizipalismus“, Sixtine Van Outryve verwendet beide Begriffe synonym) ist politisches Projekt, das zwei Fragen neu stellt: Wie kann sich die Bevölkerung zusammenschliessen, um sich selber zu verwalten, und was ist die Art und Weise, wie Macht ausgeübt werden soll.

Kommunalismus schlägt vor, dass wir die hohe Bedeutung, die wir heute dem Staat oder der Nation zumessen, auf die Kommune, auf die Gemeinde, verschieben. Anstatt dass Macht von Repräsentant*innen ausgebübt wird, sollen es die Leute selber sein, die direkt die Macht ausüben – und zwar indem sie sich versammeln. Die Volksversammlung (assemblée populaire) auf lokaler Ebene soll Macht ausüben, nicht Repräsentant*innen und professionelle Politiker*innen. Der Kommunalismus sieht somit die Kommune als der Ort, wo kollektiv die politischen, ökonomischen und sozialen Angelegenheiten geregelt werden können, via Volksversammlung, die face-to-face deliberiert und entscheidet.

Konföderation als Dooppelmacht-Strategie

Mit Kommunalismus ist jedoch kein Lokalismus gemeint, der sich auf die eigene, kleine, autharke Kommune beschränkt. Vielmehr ist die Idee, dass sich die Gesellschaft auch oberhalb der lokalen Ebene organisiert, als Konföderation. Während die Versammlung autonom auf lokaler Ebene diskutiert und entscheidet, entsendet sie Delegierte an die regionale Ebene, also an die übergeordnete Versammlung der Delegierten aller regionalen Kommunen. Die Delgierten sind mit einem imperativen und widerrufbaren Mandat ausgestattet, das heisst, sie müssen die Entscheidungen vertreten, die bereits in ihrer Kommune gefällt wurden.

Das ist also das genaue Gegenteil einer Regierung, die nach ihrer Wahl für einige Jahre an der Macht ist und während dieser Zeit tun kann, was sie will. Im jetzigen System geben die Menschen ihr Einverständnis, dass Macht über sie ausgeübt wird – im Kommunalismus, sagt Sixtine Van Outryve, „sind es die Menschen, die die Macht selber ausüben“.

Kommmunalistische Strategie zielt darauf ab, eine Situation der Doppelmacht (double pouvoir – dual power) zwischen einerseits all den selbstverwalteten Kommunen, die sich untereinander konföderieren, und andererseits dem Staat entstehen zu lassen. Diese zwei Blöcke stehen in Konkurrenz um die politische Legitimation.

Die „Versammlung der Versammlungen“ in Commercy

Sixtine Van Outryve erwähnt, wass es zwei Strategien gibt, 1. eine extra-institutionelle Strategie (d.h. ausserparlamentarisch sich die Macht von unten nehmen) und 2. die Strategie, Kandidierende für Kommunalwahlen aufzustellen – aber mit einem „sehr, sehr klaren Mandat“, das darin besteht, sobald sie gewählt werden, die Macht an die Volksversammlung abzutreten. Sie verpflichten sich also, im Fall ihrer Wahl die Entscheidungen der Versammlung umzusetzen.

Es ist diese zweite Strategie, mit der sich Sixtine Van Outryve in ihrer Arbeit hauptsächlich beschäftigt. Ihre Erfahrung ist, dass es am einfachsten ist es, wenn an einem Ort bereits eine Praxis von Versammlungen in einer sozialen Bewegung vorhanden ist. „Es ist sehr schwierig, an die Macht zu kommen und erst dann eine Versammlung ins Leben zu rufen, die vorher nicht existiert hat“, betont sie.

In der Kleinstadt Commercy (5300 Einwohner*innen), mit der sich ihre Doktorarbeit befasst, gab es bereits eine solche Bewegung im Rahmen der „Gilets jaunes“. Die Gilet Jaunes von Commercy haben sich 2018 in Versammlungen organisiert, eine kleine Baracke aufgestellt und jeden Tag um 18.30 Uhr getroffen. Entscheidungen wurden kollektiv, ohne Chef, getroffen. Darüber hinaus richteten sie einen Appell an die lokalen Komitees der Gilets jaunes in anderen Städten, ihre Delegierte an eine „Versammlung der Versammlungen“ zu schicken. Diese konföderale Versammlung fand mehrere Male statt.

2020 nahmen die Gilets jaunes dann an den Lokalwahlen teil. Ihr Programm: Falls sie an die Macht kommen, setzen sie strikt die Entscheidungen der Versammlung um, unter dem Motto: Le pouivoir est a vous! („Die Macht gehört euch!) Ihre Kampagne umfasste unter anderem Fragebogen, Versammlungen und Haustürgespräche. Leider verlief die Wahl nicht erfolgreich. Trotzdem wurden wichtige Fragen aufgeworfen und wertvolle Erfahrungen gesammelt.

Kommunalismus ist auch Sozialismus; Chiapas, Rojava, Cheran

Der zweite Podcast-Gast ist der Philosoph und Soziologe Pierre Sauvetre, Co-Autor von Du municipalisme au communalisme (Vom Munizipalismus zum Kommunalismus). Er präzisiert, dass Kommunalismus nicht einfach direkte Demokratie ist. Beispielsweise habe die Schweiz in einer direktdemokratischen Abstimmung entschieden, Minarette zu verbieten. Das ist nicht, was mit Kommunalismus gemeint ist. Pierre Sauvetre definiert deshalb Kommunalismus als einen direktdemokratischen Sozialismus. Alle munizipalistischen/kommunalistischen Bewegungen müssten sich der Frage stellen, was sie für wirtschaftliche Gleichheit tun, also für eine ökonomisch egalitäre Gesellschaft. So könnten auch die sozioökonomischen Abstiegsängste angesprochen werden, die viele Menschen haben.

Kommunalismus braucht aber Zeit, meint Pierre Sauvetre: „Die Leute müssen sich dieses neue Modell, Politik zu machen, zuerst aneignen.“ Beispiele dafür sieht er in Chiapas und in Rojava. In unserer Gegend wünscht er sich mehr kommunalistische Experimente: „Eine Kommune müsste die Möglichkeit haben, mehrere Jahre lang eine Politik auf der Basis von Volksversammlungen zu führen.“

Als weiteres Beispiel erwähnt Sixtine Van Outryve die mexikanische Stadt Cheran, die 2011 ihre korrupten Politiker*innen abgesetzt hat und sich seither selbst organisieren mithilfe von Quartiersversammlungen.

Konföderation gibt den Kommunen mehr Kraft

Damit Kommunalismus funktionieren kann, fügt Pierre Sauvetre hinzu, braucht es in der Region ein vorteilhaftes Klima, in dem sich die Kommunen gegenseitig unterstützen können. Er nennt das Beispiel der Stadt Saillens, die mit Partizipation experimentiert hat, aber sehr isoliert war. In der munizipalistischen Bewegung in Spanien hingegen profitierten die Städte davon, dass sie miteinander in Verbindung standen.

Bei den nächsten Kommunalwahlen 2026 wird die Bewegung sehr viel mehr Kraft besitzen, wenn sie nicht „nur“ munizipal/kommunal ist, meint Pierre Sauvetre. Das ist schwierig verständlich zu machen: „Der Kommunalismus ist nicht nur kommunal!“ Er muss auch „national“ sein [A.d.Ü: im Sinn von: „bundesweit“, nicht im nationalistischen Sinn], also mit einem konföderalen Charakter, um wirklich Früchte zu tragen – auch wenn die Handlungsebene die lokale Ebene ist.

Konföderalismus spricht die Ebene der Politik an, die den Rahmen der Gemeinde überschreitet, also wenn etwas auf einer räumlich grösseren Ebene entschieden werden muss (regionale Ebene, landesweite Ebene). Im Unterschied zum föderalen Staat, der „von oben nach unten“ funkioniert und die Repräsentant*innen über den Menschen in den Kommunen stehen, sind es in einer Konföderation die Kommunen, die ihre Delegierten mit dem imperativen Mandat an die weiträumigere Ebene entsenden – womit die Macht an der demokratischen Basis bleibt.

Rechtsextreme an Versammlungen?

Moderator Thomas Simon stellt die Zwischenfrage: Was ist, wenn Rechtsextreme an die Versammlungen kommen? Pierre Sauvetre entschärft: Die Versammlung ist ein Ort der politischen Sozialisierung, an dem die Leute ihre Meinung ändern können. Er findet es wichtig, auch Leute, die manchmal rechts wählen, dabei zu haben: „Es besteht eine grosse Differenz zwischen ihnen und Neonazi-Gruppen.“ Versammlungen können den Leute zeigen, dass man die Dinge auch anders machen kann. Sixtine Van Outryve bestätigt dies: In Commercy gab es wirklich Leute, die ihre Meinung und sogar ihre politische Ausrichtung änderten.

Versammlung per Los oder für alle?

Eine Publikumsfrage gilt den Bürger*innenräte, deren Mitglieder per Los bestimmt werden. Sixtine Van Outryve anerkennt, dass solche Modelle einen Fortschritt gegenüber der repräsentativen Demokratie sind. Aber sie genügen nicht – es werden wieder neue Repräsentant*innen geschaffen; wiederum könne nur ein kleiner Teil der Bevölkerung partizipieren, auch wenn dieser Teil gerecht durch das Los ausgewählt werde. „Es ist ein Selektionsmechanismus, aber nur wenn die ganze Bevölkerung partizipieren kann, können wir aus der politischen Krise aussteigen“, meint Sixtine Van Outryve.

Sie plädiert stattdessen dafür, dass Massnahmen ergriffen werden, damit möglichst viele Menschen an offenen Versammlungen teilnehmen können: geeigneter Transport, Kinderbetreuung, verschiedene Zeiten, die verschiedene Arbeitszeiten berücksichtigen.

Thomas Simon nennt das Beispiel von Poitiers, wo eine „hybride“ Versammlung organisiert wurde: offen für alle, aber zusätzlich mit ausgelosten Personen zugunsten der Diversität.

Zeigen, wie die Bevölkerung entscheiden würde, wenn sie die Macht hätte

Versammlungen sind für Pierre Sauvetre auch ein Instrument der „Präfiguration“, also die Möglichkeit, die Gesellschaft, die wir uns wünschen, schon im „Hier und Jetzt“ zu leben. Wenn beispielsweise in einer Kommune eine wichtige Entscheidung ansteht und man sieht, dass die Gemeindebehörde in eine bestimmte (schlechte) Richtung tendiert, können sich die Einwohner*innen organisieren und eine Gegen-Versammlung (contre-assemblée) veranstalten. Sie können sie sichtbar machen, wie die Entscheidung ausfallen würde, wenn die Bevölkerung die Entscheidungsmacht besässe. „Es ist der Versuch, die Versammlung als Gegenmacht zu konstruieren, als ob sie bereits an der Macht wäre“, so Pierre Sauvetre.

Ökologie, Commons und Kommunalismus müssen sich vernetzen

Pierre Sauvetre nennt einen letzten, wichtigen Punkt: Ökologische Bewegungen, die Commons-Bewegung und der Munizipalismus/Kommunalismus teilen vieles. Sie müssen ihre Ähnlichkeit erkennen und sich miteinander verbinden.

Es gibt einige Aktivist*innen der ökologischen Bewegung Les Soulèvements de la Terre, die sich positiv auf Murray Bookchin beziehen. Seine Theorie der soziale Ökologie bilde die Grundlage für seine Vision des Kommunalismus – die kommunale Ebene sei die richtige Ebene, auf der angesetzt werden könne, um eine ökologische Transformation herbeizuführen.


Beitrag veröffentlicht

in

, , ,

von