Nachbarschaft organisieren, lokale Macht aufbauen

Organizing-Methoden sind hilfreich, damit sich eine Nachbarschaft kollektiv selbstermächtigen kann. Das geht nur über echte Beziehungen und mit Bezug zu aktuellen, konkreten Problemen vor Ort – aber mit den dahinterliegenden systemischen Problemen im Blickfeld. Der Workshop „Building Power in Place“ am diesjährigen ISE-Sommerintensivkurs hält einige Erkenntnisse bereit.

„Wir müssen aus unseren Bubbles ausbrechen, denn alleine werden wir die Revolution nicht schaffen – it’s not going to happen!“ Die Workshop-Co-Leiterin hat einen besseren Vorschlag: „Wir müssen die Leute erreichen, die unseren Wunsch nach gesellschaftlicher Transformation teilen.“

Der Workshop Building Power in Place1 (dt. „Macht an einem Ort aufbauen“ bzw. „ortsbasierte Macht aufbauen“) war eines der Angebote am Sommerintensivkurs des Institute for Social Ecology (ISE), der dieses Jahr auf in Bellingham im Bundesstaat Washington stattfand. Eine Woche lang ging es bei sommerlichen Temperaturen um Klimakrise und soziale Ökologie. Neben Theorie und Diskussionen stand vor allem die Praxisanwendung im Vordergrund, so wurden etwa eine Ernährungssouveränitäts-Initiative und die Agrarkooperative Tierra y Libertad besucht.

Stichwort Theorie und Praxis: Ein Problem von vielen sozialökologischen, kommunalistischen Projekten ist, dass sie unmittelbar mit der Schaffung von Volksversammlungen einsteigen wollen, anstatt bei konkreten Problemen anzusetzen, wie der Workshop-Co-Leiter meinte. „Wenn ihr schon beim ersten Haustürgespräch soziale Ökologie erwähnt, kann das zu Skepsis führen“, hielt er fest. Anstatt zu stark auf Theorie zu fokussieren (z. B. auf basisdemokratischen Versammlungen), sei es am Anfang besser, aufzuzeigen, wie sozialökologisches Organizing der Nachbarschaft konkret und materiell nützen könnte.

In der anschliessenden Gruppendiskussion kamen zahlreiche Ansatzpunkte für konkrete lokale Probleme und Lösungen zusammen: das Fehlen von Nachbarschaftsbeziehungen, zu wenige Parks, zu wenige Spazierwege (ein häufiges Problem in US-Städten), keine Lokalzeitung, Polizeipräsenz versus abolitionistische2 Nachbarschafts-Wache, mehr Stationen mit Hundekot-Säckchen, Schlaglöcher in den Strassen reparieren, Werkzeuge in der Nachbarschaft teilen (z. B. mit einem für alle zugänglichen Geräteschuppen), Autoteile tauschen, Kinderbetreuung organisieren, mehr Bushaltestellen, bessere Strassenbeleuchtung, Carpooling (Mitfahrgelegenheiten organisieren). Sind mehrere Nachbar*innen erst mal gemeinsam in einem Raum, stellen sie fest: „Hey, wir könnten das tun!“ und können so zu kollektiver Handlungsmacht gelangen.

Ein weiteres Beispiel war Organizing rund um illegale Abfallentsorgung: „Wir organisierten einen Littering-Aufräumtag, das gab uns vier Stunden, um mit unseren Nachbar*innen ins Gespräch zu kommen“, erzählte die Aktivist*in. Unter anderem wurden an dem Tag mehrere Stapel alte Autoreifen eingesammelt. „Die Leute waren stolz darauf, was wir gemeinsam erreicht haben!“ Ein anderes Erfolgserlebnis drehte sich um eine geplante Änderung der Zonenvorschriften, als eine Stadtbehörde in einer Wohnzone eine Fabrik ansiedeln wollte, was für die Nachbarschaft viele Emissionen bedeutet hätte: „Die Leute waren Feuer und Flamme und bereit, sich nächste Woche zu treffen.“

Die 30:70-Regel

Teil des Workshops war ein Übungs-Rollenspiel für Haustürgespräche (doorknocking). Dazu gab es einige Praxistipps. Ein Prinzip lautet, dass das Verhältnis zwischen selber reden und die andere Person reden lassen 30 zu 70 betragen sollte. Ein Haustürgespräch kann beispielsweise als eine Zwei-Minuten-Umfrage gestaltet werden: Was wünschen Sie sich, das in unserer Nachbarschaft verbessert werden sollte? Was wollen Sie nicht? Würden Sie ändern? Haben Sie eine konkrete Idee oder einen Lösungsvorschlag?

Letztere Frage ist besonders interessant, denn sie lässt sich mit der Einladung verknüpfen, an die nächste Nachbarschaftsversammlung zu kommen. Dort kann die Person nämlich andere finden, die ihr dabei helfen können, ihre Idee umzusetzen.

Ein Haustürgespräch sollte aber trotz der 30:70-Regel kein „Verhör“ sein, bei dem die Person mit Fragen bombardiert wird. Ab und zu sollte die Aktivist*in auch eigene Bemerkungen teilen; es soll ein echtes Gespräch stattfinden. Was nicht heisst, dass alle gleich mit allen die besten Freunde sein müssen.

Beziehungen: unser zukünftiger Verteidigungsmechanismus

Was auch zur Sprache kam: Die Nachbarschaft zu organisieren ist nicht notwendigerweise emanzipatorisch. Es kann auch leicht in eine reaktionäre Richtung kippen, beispielsweise wenn sich Anwohner*innen mit der Haltung „Nicht in meinem Hinterhof“ (not in my backyard) gegen ein bestimmtes Projekt wehren (beispielsweise, wie es im europäischen Kontext häufig geschieht, gegen eine Asylunterkunft).

Versammlungsdemokratie (assembly democracy) sollte deshalb kein „leeres Gefäss“ sein. Wichtig ist es, alternative Lösungen zu diskutieren (im Wissen, dass es keine „Patentlösung“ gibt) und zu fragen, wie diese der örtlichen Gemeinschaft zugute kommen können. Wenn es beispielsweise um Obdachlose im Quartier geht, sollten wir in der Lage sein, alternative Lösungen anzubieten anstatt die Polizei zu holen.

Betont wurde, dass der Aufbau von Beziehungen das Wichtigste ist: „Sie sind unser zukünftiger Verteidigungsmechanismus“, sagte der Workshop-Co-Leiter im Hiblick auf den stärker werdenden Faschismus. „Es gibt da draussen viele Faschist*innen, die sich darauf vorbereiten, ‚Kommunist*innen zu erschiessen!‘“

Handeln Aktivist*innen aus einem Privileg heraus?

Problematisiert wurd auch, dass manche Organizer*innen aus einer weissen, gebildeten Mittelschicht stammen und deshalb aus einer privilegierten Situation heraus handeln. Auf jeden Fall gelte es, white saviourism, also eine „weisse Erlöser*innen-Haltung“, zu vermeiden. Schuldgefühle oder Scham sind hingegen auch kein geeigneter Rahmen. Besser sei, sich ehrlich zu fragen: Wer bin ich unter anderen Menschen? Wie wurde ich zu dem was ich bin? (Identität, Erziehung, Ausbildung, Familie, Kultur, Sprache.) Wenn Aktivist*innen echte Beziehungen mit ihrer Community aufbauen wollen, müssen sie sich diese Fragen in Bezug auf sich selbst und in bezug auf ihr Gegenüber beantworten können.

Aktivist*innen müssen sich fragen, welche Interessen sie mit ihrem Gegenüber teilen. Manchmal sind diese nicht offensichtlich. Eines jedoch immer, nämlich das geografische: Sie leben alle an einem bestimmten Ort. Damit ein echtes Gespräch möglich ist, müssen sie klären, wie sie selber involviert sind und wie ihr Gegenüber „tickt“.

Zwei Strategien: „inside“ und „outside“

Im zweiten Teil des Workshops ging es um das Weiterführende – also um die revolutionäre Perspektive und um die systemischen Probleme, dessen Ausdruck die konkreten Nachbarschaftsprobleme sind. Das Video zum zweiten Teil sollte demnächst über die Kanäle des ISE zugänglich sein.

Um nur einen Punkt herauszugreifen: Es ging unter anderem um die Gegenüberstellung von zwei Strategien, nämlich dem Organizing innerhalb oder ausserhalb der bestehenden (lokalen, nicht nationalstaatlichen) Institutionen. Eine Antwort lautete, dass bestehende Gremien wie Nachbarschaftsvereine (block clubs) oder sogar Gemeinderäte/-versammlungen oder Kirchen als Gefäss genutzt werden können, innerhalb derer organisiert werden kann. Aber immer mit dem Gedanken, auf eine Transformation, sprich Demokratisierung, hinzuwirken. Falls kein geeignetes Gremium existiert, bietet sich eine ausserinstitutionelle Strategie an. Welche Strategie zum Einsatz kommt – die Inside-Sgtrategie oder die Outside-Strategie –, hängt also ganz von den örtlichen Umständen ab.

-md

Links:
Institute for Social Ecology (ISE)
Ausschreibung Sommerintensivkurs 2024
Youtube-Kanal des ISE


1Dieser Workshop war einer der wenigen, die hybrid stattfanden. Videos der Präsentationen werden später aufgeschaltet.

2„Abolitionistisch“ bezieht sich hier auf das police abolition movement, eine Bewegung in den USA, die Polizei durch andere Systeme öffentlicher Sicherheit ersetzen will.


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