Die basisdemokratischen Student*innen-Plena und Massenproteste in Serbien stossen bei uns zwar auf grosse Sympathie, aber der deutschsprachigen Linken ist es bisher noch nicht gelungen, sie richtig einzuordnen und ihre Bedeutung zu würdigen. Diese Lücke möchten wir mit unserem Beitrag füllen. Die Plena und die Versammlungen der Zivilbevölkerung tragen den Kern einer kommunalistischen, konföderalistischen Gesellschaft in sich – wie es auch bei früheren historischen Bewegungen der Fall war, beispielsweise der Spanischen Revolution von 1936. Die Frage ist: Bleiben die Protestierenden bei der Forderung nach repräsentativdemokratischen Wahlen stehen, oder gehen sie weiter, in Richtung echter Selbstverwaltung?
Der Einsturz der Bahnhofshalle von Novi Sad am 1. November 2024, bei dem 16 Menschen ums Leben gekommen sind, hat in Serbien eine riesige Protestwelle gegen das autoritäre Regime von Aleksandar Vučić ausgelöst. Speziell daran ist, dass sich die Protestbewegung auf Student*innen in allen Universitäten des Landes abstützt, die ihre Fakultäten besetzen und sich basisdemokratisch in Plena organisieren – und dies seit mehreren Monaten.
Nach einem Disco-Brand in Kočani weiteten sich die Proteste nach Nordmazedonien aus, und auch hier spielen die Plena eine wichtige Rolle. Deutschsprachige Medien haben ausführlich darüber berichtet, insbesondere linke Medien zeigten sich am Thema interessiert (beispielsweise die WOZ: 9.1., 30.1., 6.2., 17.4. oder die TAZ: 20.3.). Und nicht nur an den Unis werden Plena abgehalten, parallel dazu organisieren sich auch in der Zivilgesellschaft populäre Versammlungen: Was die Plena für die Studierenden sind, sind die Versammlungen für die Bürger*innen (englischsprachiger Artikel auf Znet).
Der basisdemokratische Aspekt fasziniert natürlich, gleichzeitig steht aber eine gewisse Ratlosigkeit im Raum, was denn die Alternative zu Vučićs korruptem System sein könnte. Freie Wahlen, repräsentative Demokratie, wie in andern europäischen Ländern – oder etwas gänzlich Anderes, wesentlich Radikaleres?
„Etwas Urdemokratisches“
In Beitrag von Radio Dreyeckland vom 26. April 2025 bezeichnet Dejan Mihajlović, Lehrer und Referent für Demokratiebildung, die Bewegung als „urdemokratisch“. Es gehe nicht nur um den Rücktritt der Regierung, sondern um einen Systemwandel, weg von Korruption und von Institutionen – Gerichte, Polizei, Behörden –, die ihre Arbeit nicht machen würden.
Dejan Mihajlović beschreibt weiter, wie Student*innen Proteste und gezielte Widerstandsaktionen gegen Vučićs Politik organisieren. Nicht nur hat jede Fakultät ein Plenum, sondern die Fakultäten schliessen sich auch stadtweit zusammen und die Städte wiederum besprechen sich in einem Dachverband. Gleichzeitig ist der Rückhalt in der Bevölkerung auch nach Monaten noch sehr gross. Mehr noch: Ohne die Unterstützung von Menschen, die spenden und den Student*innen Essen bringen, könnte die Bewegung gar nicht aufrecht erhalten werden. An den Unis wiederum gibt es spezielle AGs, die gezielt Gruppen ansprechen, etwa Gewerkschaften, Apotheker*innen, Arbeitende im öffentlichen Nahverkehr, Landwirt*innen, Rentner*innen oder auch Gruppierungen wie Biker. Ausserdem wird der Protest auch von den Städten in die Dörfer getragen.
Dejan Mihajlović stellt anerkennend fest, dass die Bewegung in Serbien extrem durchdacht sei, weil sie eben Zeit gehabt habe, strategisch nachzudenken. Dies sei ein Faktor, der in Deutschland oft fehle. Demokratie brauche Zeit, für Begegnung, Debatten, Strategien, so Mihajlović. Erstaunlich sei, dass nach Jahrzehnten unter autoritären Systemen – auch Tito sei autoritär gewesen – so „etwas Urdemokratisches“ habe entstehen können. Der Dreyeckland-Moderator spricht zwar die Tatsache an, dass sich die Räte zum Teil aus der jugoslawischen Geschichte erklären lassen. Das Interview verfolgt diesen Gedanken dann aber nicht weiter. Im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung erwähnt Mihajlović lediglich, dass es Vorschläge in Richtung von freien Neuwahlen und einen demokratischen Prozess gebe.
Lokale Selbstverwaltung im und gegen das autoritäre System
Die Einordnungen des Radio-Dreieckland-Beitrags sind natürlich richtig. Und vielleicht müssen auch allfällige revolutionäre Hoffnungen, dass sich die Protestbewegung einem konföderalistischen Rätesystem als Alternative zum Nationalstaat zuwendet, etwas gedämpft werden. Trotzdem lohnt es sich, dieser gedanklichen Linie etwas weiter zu folgen.
Ein weiteres, im deutschsprachigen Raum wenig bekanntes Phänomen sind die basisdemokratischen Versammlungen, die seit über zwölf Jahren in Maribor (Slowenien) stattfinden. Aus Unzufriedenheit mit der städtischen Regierung haben Einwohner*innen 2012 damit begonnen, Aktivitäten in ihrer Community selbstständig zu organisieren. Wie dieser ausführliche Artikel auf Znet beschreibt, ist die Versammlungsform etwas, das die älteren Menschen noch aus der jugoslawischen Ära kannten und sich deshalb als Organisationsform anbot.
Auch im autoritären Sozialismus des 20. Jahrhunderts war es eben so, dass den Bürger*innen bewusst ein gewissen Mass an Selbstverwaltung zugestanden, ja sogar erwartet wurde. Nur in einer verdrehten, herrschaftsstabilisierenden Form. Auch im Serbien unter Vučić gibt es Gesetze für lokale Selbstverwaltung und Gemeindeversammlungen. Aufschlussreich ist hier ein Artikel des serbischen Politmagazins NIN (auf Englisch verfügbar), in dem ein Verfassungsrichter die Plena und Bürger*innenversammlungen diffamiert – sie seien nur informell, „Simulacra der Realität“, eine „verzerrte Spiegelung“ dessen, was direkte Demokratie tatsächlich sei. Um dann gleich noch die klassische (athenische) direkte Demokratie als etwas zu brandmarken, das nur dank Sklaverei funktioniert haben soll. In der heutigen Zeit könne ein „zivilisierter, konstitutioneller, legaler Staat“ nur auf repräsentativer Demokratie basieren. Mit Volksinitiativen und Referenden kann die Bevölkerung bestenfalls korrigierend eingreifen – mehr Kreativität lässt das enge politische Weltbild des interviewten Verfassungsrichters nicht zu.
Perspektive Kommunalismus im Balkan?
Im selben Artikel doppelt Jelena Žarić Kovačević, die Ministerin für Öffentliche Verwaltung und lokale Selbstregierung nach: „Zivile Zusammenkünfte können weder Bürgermeister*innen und Gemeindepräsident*innen absetzen, noch können sie das Funktionieren von Gemeinde- und Stadtversammlungen organisieren, oder der Gemeinde- und Stadtverwaltung, unter anderem.“ Unwillentlich und vermutlich unwissend hat sie mit dieser Aussage im Negativen beschrieben, was der Kommunalismus (bzw. libertäre Munizipalismus) im Positiven vorschlägt: Dass die zentralisierte Entscheidungsmacht von der lokalen Regierung an die lokale Bevölkerung devolviert (abgegeben) wird, die diese in der Form von populären Versammlungen ausübt (und somit so gerecht wie möglich auf alle verteilt).
Abschliessend soll hier eine kommunalistische Einordnung des Phänomens in Serbien empfohlen werden, geschrieben vom Aktivisten, Theoretiker und Forscher Yavor Tarinski. Sein Text trägt den Titel „Plenums in the post-Yugoslav space“ (Plena im post-jugoslavischen Raum) und stellt die aktuellen Ereignisse in eine Tradition von Protesten und Plena im Balkan, etwa in Bosnien-Herzegovina oder Nordmazedonien. Als Verfechter der direkten Demokratie blickt Tarinski mit Spannung in die Zukunft: ob die Plena in Serbien und Nordmazedonien langfristig bestehen werden und gar Konföderationen bilden können, „sodass ein neues organisatorisches Modell von unten entstehen und den Status quo herausfordern kann.“ Er sieht solche Institutionen als Ausdruck dessen, was C. L. R. James als „universelles, nach direkter Demokratie strebendes Gefühl“ bezeichnet, wie es sich unter anderem in den Versammlungen und Räten der Französischen, Haitianischen, Russischen (in der Frühphase) und Spanischen Revolution gezeigt habe.
Linke, basisdemokratische Bewegungen auch im deutschsprachigen Raum tun gut daran, das Phänomen der Plena und Bürger*innenversammlungen im Balkan zu analysieren und zu diskutieren. Um mit Yavor Tarinskis Worten zu schliessen: „Was auch immer die Zukunft bringen mag, solche Entwicklungen können uns nur Hoffnung geben, dass eine andere Welt möglich ist, und uns zum Handeln in unseren eigenen Geografien inspirieren.“
-md
Links:
https://rdl.de/beitrag/einem-land-wie-serbien-kann-etwas-entstehen-was-urdemokratisch-ist
https://znetwork.org/znetarticle/people-self-organise-assemblies-everywhere-across-serbia/
https://www.woz.ch/path-preview/node/93919
https://mihajlovicfreiburg.com/ -> Demokratisches Organisieren im Plenum – von Student*innen lernen