„Die Zeit ist gekommen, unsere Kämpfe zu organisieren!“ In dieser Absicht haben sich vom 14.–16. Februar 2025 in Wien rund 800 Delegierte von 160 demokratischen, revolutionären Organisationen aus über 35 Territorien zur ersten Konferenz der „Peoples’ Platform Europe“ getroffen. Wie geht es nach der Konferenz weiter? Wie kann sich eine grosse, solidarische Bewegung „von unten“ dem Faschismus und den Krisen der kapitalistischen Moderne entgegenstellen? Klar wurde nach den drei Tagen: Alle sind gefordert, Verantwortung zu übernehmen und die Plattform zu einer lebendigen Kraft werden zu lassen.
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Das Interesse an der „Peoples’ Platform Europe“ war grösser als erwartet: Die 600 Teilnahme-Slots wurden auf 800 erweitert, dann musste die Registrierung aus Platzgründen geschlossen werden, weil der Audimax-Hörsaal an der Uni Wien nicht mehr Personen fasst. Aber das Orga-Team hätte wohl locker eine 2000-Personen-Location füllen können.
„Wir wollen drei Tage nicht nur zusammen diskutieren, sondern zusammen leben, die Welt verändern – bitte fühlt euch verantwortlich in dieser Rolle!“, wurden die Teilnehmenden bereits am ersten Tag aufgefordert. Es handelte sich eben nicht nur um „eine weitere Konferenz“. In einer intensiven Vorlaufzeit hatten sich Arbeitsgruppen getroffen, gemeinsame Grundlagen erarbeitet und das Workshop-Programm vorbereitet; überhaupt lief alles in einem sehr basisdemokratischen Geist ab. Die Initiative zur „Peoples’ Platform Europe“ kam aus dem Umfeld der kurdischen Freiheitsbewegung (zu erwähnen ist hier unter anderem die Akademie der Demokratischen Moderne ADM) und ihre Werte waren im Hintergrund immer präsent – Basisdemokratie, Offenheit, Internationalismus, die tragende Rolle von Frauen und anderen unterdrückten Geschlechtern1 beim Aufbau einer neuen Gesellschaft, die Rolle der Jugend, Antikolonialismus, Antikapialismus – und viele der anwesenden Organisationen bezogen sich direkt oder indirekt auf das Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung. Aber viele auch nicht explizit, und trotzdem kam eine zielgerichtete, konstruktive Atmosphäre auf: Vieles konvergierte, bei allen Differenzen (dazu weiter unten mehr), auf erstaunliche Weise.
Zu betonen ist ferner, dass ein Grossteil der reproduktiven Arbeit während der Konfernz von der kurdischen Community geleistet wurde, von der Verpflegung bis zu den Übernachtungsmöglichkeiten. Aber wie eine Teilnehmerin am Schluss sagte: Das zeigt auch auf, was möglich ist.
Organisieren, organisieren, organisieren
Eine Gemeinsamkeit aller Anwesenden war der Wille, „die Initative wieder zu ergreifen“ – „Reclaim the Initiative“ lautete das Motto der Konferenz. Es soll eine Plattform geschaffen werden, mithilfe derer „die Art, wie die Linke in Europa Politik betreibt“ grundsätzlich verändert wird. Es ist ja nicht so, dass es in Europa keine politischen und sozialen Bewegungen ausserhalb des liberalen, nationalstaatlichen Parlamentarismus gibt. Zum Teil haben sich jahrzehntelange Erfahrungen angesammelt und auch in den letzten Jahren enstanden immer wieder neue Initiativen, Nachbarschafts- und Kiezbewegungen, demokratische Bildungs- und Medienprojekte, ökologische Kämpfe, feministische Organisationen, Jugendgruppen, Kommunen, Kooperativen. Sie müssen sich nur organisieren – „organize“ war wohl eines der Wörter, das die Teilnehmenden während den drei Tagen am meisten in den Mund nahmen.2 Die Linke soll zusammenfinden und auf ein anderes Gesellschaftssystem hinarbeiten, so das Narrativ, und dazu müssen kollektive, horizontale, organisatorische Prozesse in Gang gesetzt werden, etwa indem ein System von Delegierten entwickelt wird. Das Wort „Konföderation“ war zwar selten explizit zu hören, ist aber natürlich konzeptuell im Demokratischen Konföderalismus3 angelegt.
Die Peoples’ Platform Europe will ausdrücklich keine zentralistischen Strukturen schaffen: Das Wichtigste seien die lokalen Kämpfe, betonte eine teilnehmende Person. In manchen Workshops wurden von möglichen, regionalen Konferenzen gesprochen; übrigens soll die Peoples’ Platform Europe nur ein erster Schritt sein: Weitere Plattformen in Afrika, Abya Yala, im Mittleren Osten und in Asien sind vorgesehen.
Regionen und Internationalismus
Überhaupt wurde an der Konferenz viel über Regionen diskutiert. Mehrere Autonomiebewegungen waren vertreten, beispielsweise aus Katalonien oder aus Euskal Herria (Baskenland), auch Perspektiven aus Osteuropa und dem Balkan meldeten sich zu Wort, manchmal mit der Kritik, dass die westliche Perspektive oft dominant ist. Die Thematik der Regionen dockt unmittelbar an die Konzepte der Demokratischen Autonomie und der Demokratischen Nation an, die ein demokratischen Zusammenleben jenseits von Nationalstaaten propagieren.
Auf diese Weise wurde an der Konferenz so etwas wie ein neuer Internationalismus in Umrissen spürbar. Wiederholt wurde thematisiert, was Internationalismus heute bedeuten kann. „Internationalism is today a must“ („Internationalismus ist heute ein Muss“) sagte beispielsweise Silvia Federici, die sich als Referentin online in die Konferenz einschaltete. Die Bildung eines internationalen Netzwerks sei fundamental. Mit Blick auf die soziale Reproduktion und tägliche Struggles komme hier den feministischen Bewegungen eine sehr wichtige Rolle zu.

Eindrückliche Keynotes, lebhafte Workshops
Womit wir beim Inhalt der Konkferenz wären – dazu aber nur kurz4, denn vieles findet sich auf der Website, im Booklet und auf den Social-Media-Kanälen. Am Anfang stand eine klare Analyse der kapitalistischen Moderne: Die hegemonialen Kräfte wollen die Krise gar nicht überwinden, sondern sie vertiefen sie zunehmend und streben danach, weiteren Profit herauszuholen, indem sie die Krise verwalten. Das System befindet sich somit in einem konstanten Kriegszustand – gegen die Gesellschaft als solches. Der Soziologe William I. Robinson (per Videobotschaft) führte dies aus und hob radikale Lösungen hervor, die aus den demokratischen und revolutionären Kräften hervorgehen, die „das Leben verteidigen“ (wie Ni Una Menos oder Rojava). Frauenbefreiung sei dabei nicht nur ein „Zweig“ des Kampfes, sondern Vorbedingung für alle Kämpfe.
Ein weiterer Redner war John Holloway, der die Perspektive der Zapatistas einbrachte (obwohl er sich in keiner Weise als deren Vertreter ansah, wie er betonte). Er rief dazu auf, unsere „Verzweiflung zu organisieren“: Wir lassen es uns nicht nehmen, uns vorstellen zu können, dass „eine andere Welt möglich ist“ – nur eben: Wir müssen uns organisieren.
Mireille Fanon-Mendès France sprach im 100. Geburtsjahr von Frantz Fanon über die gewalttätige Geschichte der kapitalistischen Moderne mit ihrem Kolonialismus, Epistemizid, Ausbeutung, Sklaverei und der Exklusion von schwarzen Menschen und aller Religionen ausser der christlichen. Aber sie sprach auch über die „dekoloniale Seele“, in der „Liebe und Wut“ („amour et rage“) brennen. Dekoloniale Prozesse müssten Mauern einreissen – und darauf achten, nicht selber zu Agenten des Kolonialismus zu werden.

Die Themen der neun Workshops waren Krieg und Frieden, Antifaschismus, Ökologischer Widerstand, Demokratischer Frauenkonföderalismus, Jugendidentität und -widerstand, Autonomie aufbauen, Aktivismus und Organisierung, Gegen genozidale Politik und Demokratische Medien. Während sich alle auf irgendeine Weise mit der Organisierung in Europa befassten, blickte der Aktivismus- und Organisierungs-Workshop von einer Meta-Ebene aus auf das Problem. Eine Erkenntnis lautete: Die Linke in Europa braucht eine umfassende Vision, die über partikulären Struggles hinaus geht; sie braucht eine revolutionäre Organisierung und sie muss klare Positionen entwickeln – gegenüber Staaten und NGOs, zum strategischen Nutzen von Parlamentarismus, zu feministischen Kämpfen (die oft kooptiert werden) und zu ökologischen Kämpfen (die Tausende auf die Strassen mobilisierten, aber nicht viel mehr erreichten, als dass Forderungen an die Politik gestellt wurden). Sie braucht auch konkrete Lösungen und Ziele: Was wollen wir in einem Jahr, in zwei Jahren, in drei Jahren erreicht haben. Wichtig ist auch, dass die Kämpfe der Linken nicht ausserhalb der Gesellschaft verortet werden, sondern dass sie in ihr verwurzelt sind.
Im Autonomie-Workshop wurde unter anderem darüber geredet, wie Strukturen für kommunale Wirtschaft, emotionalen Support und Selbstverteidigung aufgebaut werden können. Zu den konkreten Vorschlägen gehörten, Bildungsangebote zu schaffen oder eine Broschüre über Autonomie-Aufbau zu erarbeiten.
Blinde Flecken und Konfliktlösung
Ausser den Haupt-Themensträngen stiegen in den Diskussionen wiederholt einige weitere Themen an die Oberfläche, etwa die Befreiung der Tiere, regionale Autonomiekämpfe, Palästina. Vergleichsweise wenig wurde über die Arbeiter*innenbewegung, Klassenkampf, Streik, Privateigentum geredet.
Dass die Konferenz in drei Tagen nicht alles gebührend abdecken konnte, versteht sich von selbst. Dennoch kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass es „blinde Flecken“ und privilegierte Sichtweisen gab. Der wichtigste Kritikpunkt vielleicht: Die Perspektive der Konferenz war überwiegend weiss und überwiegend westlich.
Am dritten Tag kam schliesslich einiges an Kritik – und Selbstkritik – zur Sprache. Nach einigen hitzigen Wortmeldungen gelang es den Teilnehmenden, die Diskussion wieder in konstruktive Bahnen zu leiten und die festgestellten Unzulänglichkeiten einzuordnen. Es wurde vor allem um Geduld gebeten: Drei Tage sind zu kurz, um in die Tiefe zu gehen und konkret zu werden; vor allem dürfen die Teilnehmenden nicht erwarten, dass das Orga-Team alle Lösungen auf dem Silbertablett serviert, denn alle sind gefordert. Hier muss der Konferenz und ihren Teilnehmenden ein grosses Lob für ihre Diskussions- und Konfliktkultur ausgesprochen werden. Eine Rednerin äusserte Verständnis für Enttäuschungen und negative Erfahrungen; wir sollten uns jedoch durch ideologische und politische Differenzen nicht entmutigen lassen, sondern sie zum Anlass nehmen, näher zusammenzurücken, zu diskutieren und uns dabei gegenseitig zu transformieren. Widersprüchen sollten wir nicht mit Spaltung begegnen, sondern mit sorgfältigem Zuhören und Solidarität.
Was nicht heisst, dass Homogenität angestrebt wird. Im Gegenteil: eine häufig gehörte Redewendung war die „Einheit in der Vielfalt“ (unity in diversity)5. Wie John Holloway sagte, sollten wir unsere Fragmentierung überwinden und einen gemeinsamen Boden finden, ohne in die closure („Schliessung“) von politischen Parteien zu verfallen, sondern eine Organisierungsform finden, die „mit der Logik des Systems bricht“, die versucht, den Menschen zuzuhören, und die „die Wut und die Ideen von unten“ artikuliert.
„Unser Hauptproblem ist die kapitalistische Moderne“, rief eine sprechende Person allen in Erinnerung, „und in diesem Punkt können wir einander vertrauen!“ Wie es mit der als langfristiges Projekt lancierten Peoples’ Platform Europe weitergeht, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Kontakte wurden geknüpft, Arbeitsgruppen sind gebildet, einzelne Aktivitäten angedacht oder bereits in Angriff genommen. Es wartet viel Arbeit auf alle – eine Arbeit, die angesichts der herrschenden Krisen keinen Aufschub duldet. Ein Redner der ADM fasste dieses Gefühl mit folgenden Worten zusammen: „Eine riesige und historische Verantwortung fällt auf die Schultern von uns allen.“
-md

Website der Peoples’ Platform Europe: peoplesplatform.net
Video-Aufzeichnungen
Booklet mit den Ergebnissen (PDF)
1 Auch wenn queere Themen nicht im Vordergrund standen, war z. B. an einer Stelle der Slogan „Feminism is trans feminism, or it is not at all“ zu hören.
2 Diese Analyse und Schlussfolgerung – dass sich demokratische, linke Gruppen und Organisationen vernetzen, organisieren und koordinieren sollen, um zu einer kollektiven Kraft zu werden, teilt übrigens auch das Netzwerk für Kommunalismus mit seinem Vorschlag, einen „kommunalistischen Pol“ in der linken, politischen Landschaft zu bilden und eine gemeinsame Stimme und Sichtbarkeit zu finden: Grundlagentext.
3 Empfehlenswert ist unter anderem die Webseite der Akademie der Demokratischen Moderne, dort sind viele Informationen zu finden.
4 Dieser Text ist ein rein subjektiver Rückblick und erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit, noch den Anspruch, die Perspektive der Organisierenden, der Teilnehmenden oder der Konferenz als Ganzes zu repräsentieren.
5 Unity in diversity meint eine „Einheit in der Vielfalt“, die mehr ist als als ein simpler Kompromiss zwischen unterschiedlichen Elementen. Das Verhältnis von Vielfalt und Einheit ist dialektisch zu verstehen. Bookchin schreibt zu dem auf Hegel zurückgehenden Begriff folgendes: „Einheit und Vielheit widersprechen einander nicht als logische Antinomien. Im Gegenteil, Einheit ist die Form der Vielheit, das Muster, das ihr Erkennbarkeit und Sinn verleiht und damit nicht nur ein vereinigendes Prinzip der Ökologie, sondern von Vernunft selbst.“ (Ökologie der Freiheit“, Kapitel 11).