Die Maroons, geflohene versklavte Afrikaner*innen, bauten in abgelegenen Gebieten autonome Gemeinschaften auf, in denen sie eine direktdemokratische und ökologische Lebensweise pflegten. Modibo Kadalie stellt in seinem neuen Buch einiges richtig, was die Geschichtsschreibung bisher vernachlässigt oder falsch interpretiert hatte.
Zuerst kamen die Spanier*innen, dann die Engländer*innen. Die einen suchten Gold, die anderen übersähten das Land mit profitablen Tabak- und Reisplantagen. Für die indigene Bevölkerung und die Ökosysteme im Südwesten der sogenannten USA hatte diese Invasion, die sich ab dem 16. Jahrhundert intensivierte, katastrophale Folgen.
Genauso alt ist aber der Widerstand gegen die Invasoren. Dieser zeigte sich einerseits in Verteidigungskriegen (z. B. im Tuscarora War ab 1711), andererseits in Gegenentwürfen zum hierarchischen, kapitalistischen, exktraktivistischen, anti-ökologischen und rassistischen Siedler*innen-Kolonialismus. Das Plantagensystem konnte wirtschaftlich nur funktionieren, weil es die Arbeit von verschleppten und versklavten Afrikaner*innen ausbeutete. Diese rebellierten immer wieder und viele von ihnen konnten flüchten. Als “Maroons” gründeten sie eigene Gemeinschaften, meist in entlegenen Gebieten. Modibo Kadalie beschreibt in seinem neuen Buch “Intimate Direct Democracy” (2022) vor allem die Maroon Communities im Great Dismal Swamp an der Grenze von Virginia und North Carolina sowie die Siedlung Fort Mose in Florida. Er interpretiert die Maroon-Siedlungen als bewusst gewählte Lebensformen, nicht als historische Zufälligkeiten: Die Maroons sind in seiner Darstellung nicht die Spielbälle1 und passiven Opfer der Kolonialmächte, sondern selbstbewusste Akteur*innen. Sie erschufen bewusst eine ökologischere und kommunalistischere Alternative zum Zwangsarbeits-System, dem sie entflohen waren.2
Indigene und afrikanische Demokratie-Traditionen
Spannend ist, dass in den Maroon Communities nicht nur Afrikaner*innen lebten, sondern auch vertriebene Indigene sowie einzelne Weisse, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr in der europäisch-kolonialen Gesellschaft leben wollten. Die Lebensweise der Maroons unterschied sich in zwei wesentlichen Punkten von der europäischen: im Umgang miteinander und im Umgang mit der Natur. Die Maroon Communities waren direktdemokratisch organisiert – Modibo Kadalie spricht von “intimer direkter Demokratie” – und ihre Wirtschaftsweise kann als “ökologisch” bezeichnet werden, im scharfen Gegensatz zum Extraktivismus und zur monokulturellen Landwirtschaft der Kolonisator*innen.
Modibo Kadalie zeigt, dass sowohl die indigenen Völker, als auch die aus Afrika stammenden Menschen mit direktdemokratischen Traditionen vertraut war. Im Fall der Indigenen bezieht er sich unter anderem auf Beispiele aus “The Dawn of Everything” (2021) von David Graeber und David Wengrow.
Am Beispiel der Maroon-Siedlung Fort Mose in Florida verweist er auf die reichhaltige Geschichte von Autonomie und kollektiver Selbstverwaltung in der Guinea-Region, von wo ein Grossteil der versklavten Afrikaner*innen stammte. Allerdings will das Buch keine Anleitung für direkte Demokratie sein und verbleibt, was Praxisbeispiele betrifft, oberflächlich. Es geht Modibo Kadalie mehr um den historiografischen Rahmen, also darum, wie Geschichte erzählt wird.
Trostloser Sumpf – reichhaltiges Ökosystem
Deutlich wird hingegen, wie eng soziale und ökologische Aspekte miteinander verknüpft sind. Die europäischen Kolonialist*innen sahen in den Landschaften des von ihnen besetzten Kontinents eine unproduktive Wildnis, die zuerst fruchtbar gemacht und für die Profitlandwirtschaft zugerichtet werden musste. Dass sie dem Great Dismal Swamp diesen Namen gaben – “dismal” bedeutet “düster, trostlos” –, ist exemplarisch. Für die indigenen Völker waren die Ökosysteme jedoch eine reichhaltige Quelle von Lebensgütern. Mit einer Mischung aus Jagd, Fischerei, Gemüse- und Getreideanbau konnten sie diese auf nachhaltige Weise bewirtschaften. Die Kolonisierung war somit nicht nur ein Angriff auf ein intimes, direktdemokratisches Zusammenleben, sondern auch auf eine ökologische Wirtschaft. Am Beispiel des Reisanbaus zeigt Kadalie die verheerenden Auswirkungen auf die Küste von North Carolina und Florida. Landschaftlich ähnelte diese Gegend dem Golf von Guinea und die versklavten Menschen brachten zum Teil ein Know-how über Reisanbau mit, was sich die Kolonialist*innen zunutze machten. Doch während in Afrika im Einklang mit der Natur Reis angebaut wurde, zerstörten die Profit-Anbauflächen in Amerika die wertvollen Ökosysteme.
Ein Wort noch zur Sprache von Modibo Kadalie. Er spricht nicht von “Sklaven”, sondern konsequent von “versklavten Afrikaner*innen”3. Er benutzt nicht das Wort “Sklavenplantage”, sondern redet “enslaved labor farming”. Anstatt “entflohene Sklaven” sagt er “freedom seekers” (Freiheitssuchende). Dieser Sprachgebrauch unterstreicht das Menschsein von versklavten Individuen und verdeutlicht, dass ihre Versklavung etwas willkürlich Auferlegtes ist und nicht grundlegend zu ihrer Identität gehört.
Ein weiterer Sprachgebrauch fällt auf: Wenn Kadalie von den Gemeinschaften der Maroons spricht, bezeichnet er sie durchgehend als “eco-communities”. Es mag zunächst überraschen, einen solchen “trendigen” Begriff aus der modernen Ökologiebewegung in einer historischen Abhandlung über das 18. Jahrhundert anzutreffen. Aber Kadalie führt uns damit vor Augen, dass gesellschaftliche Utopien nicht nur in kopflastigen Diskussionen existieren, sondern vielfach in der Realität erprobt wurden – auch an Orten und in Zeiten, in denen wir sie nicht vermuten würden. Wenn wir uns heute fragen, wie wir unsere Städte sozial gerecht und ökologisch nachhaltig gestalten können, dann sind die Maroon Communities sicher eine nützliche Inspirationsquelle.
Modibo Kadalie ist seit den 1970er-Jahren in Bürger*innenrechts-, Black-Power- und Pan-Afrikanismus-Bewegungen aktiv. Er war Professor für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der Savannah State University in Georgia und ist Gründer des Autonomous Research Institute for Direct Democracy and Social Ecology.
Infos zum Buch:
Intimate Direct Democracy – Fort Mose, the Great Dismal Swamp, and the Human Quest for Freedom; Modibo Kadalie (Author); Andrew Zonneveld (Editor and Foreword), https://on-our-own-authority-publishing.square.site/product/kadalie-intimate-direct-democracy/26?cs=true&cst=custom
(Auch erhältlich bei AK Press https://www.akpress.org/intimate-direct-democracy.html)
Bild: Buchcover. Artwork: Megan Leach
1 Fort Mose, eine Maroon-Siedlung in Flordia, wurde zwar offiziell von der spanischen Monarchie unterstützt, um die Ausbreitung der englischen Kolonialmacht zu behindern. Modibo Kadalie stellt aber im Gegensatz zur herkömmlichen Geschichtsschreibung die Maroons als Akteure ins Zentrum. Wird Geschichte meistens aus der Perspektive von einzelnen mächtigen Personen und den administrativen Apparaten ihrer hierarchischen sozialen Formationen erzählt, so wendet Kadalie seinen Blick zur Peripherie hin, wo “weniger hierarchische, mehr sozial egalitäre, intimere, sozial-ökologische Formationen” existierten. Diese würden im Vergleich zu “zivilisierten”, “entwickelten” Gesellschaften als “primitiv” bezeichnet – aber das sei eine arrogante und auf falschen Vorurteilen beruhende Sichtweise. (Kadalie 2022, S. 80)
2 “In many ways, the maroons were consciously fashioning an alternative, more ecological, and more communalistic social life.” Kadalie 2022, S. 107.
3 Zur Debatte “slave vs. enslaved”: https://slate.com/human-interest/2015/05/historians-debate-whether-to-use-the-term-slave-or-enslaved-person.html
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