Die Art, wie sich moderne Gesellschaften ernähren, ist nicht nur ungesund, unökologisch und unbefriedigend – sie ist grundsätzlich mit Ausbeutung und Herrschaft verbunden. Stephen E. Hunt zeigt auf, wie das Verhältnis zum Land unser Zusammenleben prägt, und wie beides anders sein könnte. Sein Buch „We Must Begin with the Land“ untersucht zahlreiche internationale Beispiele für eine nicht-dominatorische Landwirtschaft, die sich an den Prinzipien der sozialen Ökologie orientiert.
Auf den Plantagen des frühen Kapitalismus wurden versklavte Menschen dazu gezwungen, dem Boden in möglichst kurzer Zeit möglichst viele verwertbare Produkte abzuringen. Plantagen sind der Prototyp einer „dominatorischen“ Landwirtschaft – ein rassistisches und kolonialistisches System, von dem sich eine gerade Linie zu den heutigen Praktiken der industriellen Landwirtschaft, der Tierfabriken, der Monokulturen und der neoliberalen Lebensmittelindustrie ziehen lässt. Wenn Boden ein Investitionsobjekt ist und Essen nur über den Umweg der Warenform produziert wird, nicht um das Bedürfnis nach einer hinreichenden, gesunden Ernährung zu befriedigen, dann leiden Natur und Mensch.
Aber es gibt und gab immer auch andere Weisen, sich zu ernähren und nicht nur vom, sondern mit dem Land zu leben. Stephen E. Hunt1 führt in seinem neuen Buch „We Must Begin with the Land“ eine Fülle von aktuellen und zukunftsweisenden Beispielen auf, etwa Nahrungsmittelproduktion in Kurdistan als eine „heilige Aktivität“, oder die Landlosenbewegung MST in Brasilien, altes Ernährungswissen der Adivasi oder die natürliche Shumei-Landwirtschaft aus Japan. Er rechnet aber auch das Potenzial von Kleingärten und solidarischer Landwirtschaft vor oder philosophiert über das Vergnügen, gemeinsam zu essen – der erzählerische Stil des Buchs macht Lust darauf, bewusster zu essen, vergessene regionale Spezialitäten wie die „Bath asparagus“ (eine Art Wildspargel) zu entdecken oder über Experimente wie Konsument*innen-Kooperativen nachzudenken.
Ernährungssouveränität, Agroökologie, Allmende
Viele Stichworte, die zurzeit rund um Ernährung und Landwirtschaft diskutiert werden, finden sich in dem Buch versammelt und werden auf einfache Art erklärt: Ernährungssouveränität, Permakultur und regenerative Agroökologie, Saatgut-Bibliotheken, aber auch Ideen und Konzepte zu Landnutzung und Eigentum, wie etwa Allmende (Commons) und Usufrukt (Nießbrauch). Stephen E. Hunt macht sich Gedanken, wie Ernährungssysteme dekolonisiert werden oder im Sinn des Demokratischen Konföderalismus verstanden werden können.
So ist beispielsweise La Via Campesina, das weltweit grösste kleinbäuerliche Netzwerk, horizontal und basisdemokratisch organisiert. Auch wenn sich nicht jede einzelne Kleinbäuer*in des Netzwerks explizit als Kommunalist*in bezeichnen würde, so ist die nichthierarchische Struktur von La Via Campesina doch „kompatibel mit Versammlungen und Räten“ im Sinn von Vertreter*innen der direktdemokratischen Denktradition wie Murray Bookchin und Hannah Arendt.“2
Beim Lesen wird immer klarer: Essen ist politisch. Wird demokratisch über Land und Produktion entschieden oder treiben Saatgutfirmen die Bäuer*innen in die Abhängigkeit? Ist Landwirtschaft ein horizontales „Pluriversum“ oder ein zentralisiertes System, das einigen wenigen Weltkonzernen gehört? Dabei fordert Stehen E. Hunt nicht gleich die grosse Ernährungs-Revolution: Auch kleine Fortschritte hin zu alternativen Modellen können Selbstvertrauen und Solidarität schaffen und langsam das Feuer der umfassenden Transformation entfachen, die sich die soziale Ökologie herbeiwünscht.
Prinzipien der sozialen Ökologie
Stephen E. Hunt spricht auch Tierhaltung an (ein Thema, das von sozialen Ökolog*innen kontrovers diskutiert wird3) und liefert erhellende Argumente, wann technologische Lösungen wie „vertical farming“ gut oder schlecht, ökologisch oder unökologisch sind. Dabei lässt er sich konsequent von den Prinzipien der sozialen Ökologie leiten, die er am Anfang auflistet und ausführlich beschreibt – das ist eine weitere Stärke, die das Buch aussergewöhnlich macht. Der Titel „We Must Begin with the Land“ ist übrigens ein Satz, der aus Murray Bookchins Essay über radikale Landwirtschaft4 von 1972 stammt.
Bookchin beschreibt dort (und anderswo in seinem umfangreichen Werk), wie die angenommene „Beherrschung“ der Natur dazu führte, dass die dominanten ökonomischen Klassen riesige politische Macht an sich reissen konnten, und wie der Kapitalismus die Natur entzauberte und kommodifizierte. Er streicht den desaströsen Trend zur Vereinfachung („simplification“) heraus, der sich in Monokulturen und ausgeräumten Landschaften zeigt. Die Menschheit hält er als „zweite Natur“ für untrennbar mit der Natur verbunden, da sie aus ihr hervorgeht. Darin schlummert ein zukünftiges emanzipatorisches Potenzial, nämlich dass die Menschheit eine freie und rationale Gesellschaft verwirklicht, in Bookchins Worten die „freie Natur“.
Stephen E. Hunt gelingt es, diese Theorien in den Alltag zu übersetzen: Biodiversitätsverlust ist ein Beispiel dafür, was Bookchin mit „irrationale Umkehrung der organischen Evolution“ meint; Technologie ist dann „emanzipatorisch“, wenn sie (Land-)arbeiter*innen von Mühsal befreit und ihnen einen selbstbestimmten Umgang damit ermöglicht; dass Patriarchat, Kapitalismus und Naturzerstörung verknüpft sind und deshalb gleichzeitig angegangen werdenm müssen, zeigen die Frauenkooperativen in Rojava. Eine sozial-ökologische Perspektive kann bei der Bewertung helfen, ob eine bestimmte Praxis wirklich transformatorisch, demokratisch und förderlich für menschliches und ökologisches Wohlergehen ist.
So leistet Stephen E. Hunts „We Must Begin with the Land“ gleich zwei Dinge: Er stattet die Bewegung der sozialen Ökologie mit konkreten Anwendungsbeispielen aus, und gleichzeitig führt er neue Leser*innen über ein so zugängliches und alltägliches Thema wie Essen in die Ideen der sozialen Ökologie ein. Und zeigt: Bookchin war nicht ein trockener Politik-Theoretiker, sondern ein feinfühliger Mensch, der ein geradezu spirituelles Verhältnis zur Natur und zum Land und einen „tiefen Respekt für die lebende Welt und ihre Ökosysteme“ besass.

Stephen E. Hunt: We Must Begin with the Land. Seeking Abundance and Liberation Through Social Ecology.
Buchbestellung (Paperback oder E-Book): https://www.collectiveinkbooks.com/zer0-books/our-books/we-must-begin-with-land
1 Stephen E. Hunt ist unter anderem bekannt als Herausgeber des Buchs „Ecological Solidarity and the Kurdish Freedom Movement: Thought, Practice, Challenges, and Opportunities (Environment and Society)“ (2021).
2 Hunt 2025, S. 84.
3 https://harbinger-journal.com/issue-1/the-social-ecological-case-for-animal-liberation
4 „Radical Agriculture“, https://theanarchistlibrary.org/library/murray-bookchin-radical-agriculture